Samstag, 31. März 2007

Broken glass


No broken heart

Mirror shards reflecting?

What?

You? Me?

Together

Donnerstag, 29. März 2007

ER-STARRT

Jorge saß auf der Treppe, auf der dritten Stufe von unten, und starrte Dana an. Er konnte dies gut, minutenlang, länger als es Dana aushielt.
Aber diesmal starrte Dana nicht zurück, sondern auf die Türe, die sich gerade hinter Paul leise geschlossen hatte. Jorge hatte sofort bemerkt, dass dieses Fortgehen Pauls etwas anders war als die vielen Male zuvor. Und das lag nicht daran, dass sich die Türe so leise schloß. Auch nicht daran, dass zuvor sehr viele Dinge in große Kartons verpackt worden waren, die Paul und Freunde von ihm anschließend aus der Wohnung getragen hatten. Solche Eigenheiten der Menschen waren Jorge weitgehend egal. Außerdem war nichts von dem verschwunden, was ihm, Jorge, wichtig war.
Nein, es war Danas Verhalten, dass diesmal anderes war.
Sie hatte nicht geschrieen, sie hatte auch nicht vor Wut geheult. Sie hatte eigentlich kein Wort gesagt. Und auch jetzt tobte sie nicht, warf keinen der Emailtöpfe, die als Zierde auf den Stufen nach oben standen, runter oder schlug auch keine Türe zu.
Sie saß nur da und starrte – an Jorge vorbei.

Schließlich erhob sich Dana und straffte sich.
Gut, es hatte so kommen müssen. Irgendwann halt. Paul wäre früher oder später gegangen. Jetzt war er eben früher gegangen. Sie würde damit zu recht kommen. Sie würde mit allem zu Recht kommen.
Dana schaute Jorge liebevoll an. „Komm.“ sagte sie –und Jorge kam mit.

Arbeit ist gut - Arbeit war immer gut. Zu arbeiten half Dana stets, wenn sie etwas Emotionales aus ihrem Kopf heraus bekommen wollte. Und daher wandte sie auch diesmal das bewehrte Rezept an und setzte sich vor ihren PC, öffnete ein leeres Dokument und starrte drauf.
Eine Kolumne – ihre Kolumne – wartete auf ihre Fertigstellung. Aber sie hatte einfach keine Ideen – inspirationslos völlig. Dabei war ihr vollkommene Freiheit gegeben. Keine Themenvorgabe, keine formalistische Einschränkung außer dem Gesamtumfang.
Doch sie war absolut leer, blank, tabula rasa.
Dana schaute zu Jorge.
Dieser saß etwa einen Meter von ihr entfernt am Boden und starrte sie an.

Dana starrte auf Jorge und diese starrte zurück.
Jorge war eigentlich Pauls Geburtstagskater gewesen, genauer gesagt, hatte sie Paul den damals noch wesentlich kleineren Jorge zum Geschenk gemacht – durchaus mit dem Egoismus in ihren Motiven, dass sie selbst eine Katze gewollt hatte. Daher war sie es auch gewesen, die Jorge ausgewählt hatte.
Paul ging. Jorge blieb. Und starrte sie an.

Dana schaute wieder auf den leeren Monitor, auf die Tastatur, auf der ihre Hände ruhten – exakt gesagt schwebten sie in lockerer Haltung etwa 12 mm über der Tastatur, verharrten dort entspannt, einsatzbereit, auf die Signale ihrer Besitzerin wartend.
Doch Dana war zu keiner Signalgabe im Stande.

Dann schaute sie wieder zu Jorge. Jorge saß genauso da wie zuvor, ein kräftiger, großer, Kater mit rundlichem Kopf und wunderschönen dunkelgrau und schwarz getigertem Fell.
Und er starrte Dana an.

Dana seufzte.
Dann fiel ihr ein, dass sie Jorge heute zu füttern vergessen haben könnte.
Nun, wen sollte es wundern, der Tag war außergewöhnlich und anstrengend, da konnte so etwas schon mal passieren, zumal es meistens Pauls Aufgabe gewesen war, Jorge zu füttern. Zumal es sein Kater war, auch wenn er Danas Geschenk an Paul gewesen war.
Wie leichtfertig er den Kater zurück gelassen hatte, dachte Dana, typisch für die letzten Phasen ihrer Beziehung.
Sie ging in die Küche, Jorge wartete, bis sie an ihm vorbei gegangen war und erhob sich dann auch. Dana sah nicht hin, aber sie merkte, dass er ihr folgte.

Sie füllte etwas Fleischstückchen aus der Dose im Kühlschrank in eine Lilienporzellanschüssel und hielt inne. Ganz langsam drehte sie ich um: Jorge saß einen Meter hinter ihr am Boden und starrte sie an.
„Bist Du schon so hungrig?“ fragte sie, doch gleich darauf war ihr klar, dass Jorge bei Hunger nie ruhig hinter dem, der ihn fütterte gesessen war. Zumindest nicht bei Paul.
Warum tat er das jetzt? Ob Paul das auch schon aufgefallen war.
Dann tadelte sie sich – Paul war weg, Paul konnte nicht gefragt werden, Paul war somit egal.
Sie stellte die Schüssel an den gewohnten Platz zwischen Kühlschrank und Küchentisch, während sie Jorge weiterhin anstarrte.
Dann verließ sie die Küche, annehmend, dass Jorge nun das tat, was er immer tat, wenn man ihm eine frisch gefüllte Schüssel vorsetzte, nämlich deren Inhalt in sich zu transportieren und damit würde er einige Zeit lang beschäftigt sein.
Sie setzte sich wieder an ihren Schreibtisch, beachtete die leere weiße Fläche des Dokuments nicht und wechselte zu ihren Mails. Eine lange Liste erwartete sie im Posteingang und Dana war nicht unerfreut. Viele ihrer Freundinnen wußten von Pauls Auszug und bekundeten ihr Mitgefühl und teilweise ihre Freude a la „Gut, dass Du ihn los bist.“ Dana grinste. Tja, so mußte sie es tatsächlich sehen.
Schnell ein paar Antworten tippen – und da, eine Bewegung am Rande ihres Blickfelds und Dana drehte unwillkürlich den Kopf in deren Richtung. Jorge saß da, eineinhalb Meter entfernt von ihr und starrte sie an.
Dana schob ihre Augenbrauen zusammen. „Na, Schätzchen, bist Du schon fertig?“ fragte sie, aber ihre Stimme klang nicht so sanft, wie dir Worte, die sie verwendete. Jorge bewegte sich nicht von der Stelle und wandte auch nicht den Blick ab. Danas Augenbrauen schoben sich noch mehr zusammen. Dann beschloß sie ihn zu ignorieren.
Sie konzentrierte sich auf die Mails, die sie beantworten wollte. Vielleicht kamen ihr hierbei ein paar Ideen für die längst fällige Kolumne. Normalerweise waren ihre Freundinnen sehr inspirierend.
Sie schaute nicht zur Seite, aber sie wußte, dass Jorge nach wie vor da saß. Sie mußte nicht hinsehen, um zu fühlen, wie der Kater sie anstarrte.
Aber hier war sie das höhere Lebewesen und sie würde sich nicht durch einen Kater aus dem Konzept bringen lassen. Sie doch nicht, eine toughe Frau, eine Powerfrau, die gerade die Trennung von ihrem Lebensgefährten hinter sich gebracht hatte ohne nur eine Träne zu vergießen.
Verdammt, warum hatte Paul den Kater nicht mitgenommen!
Erst jetzt merkte sie, dass sie mitten im Mail aufgehört hatte zu tippen und grübelte.
Nein, so ginge das nicht.

„Jorge, verschwinde!“ sagte sie laut, sich dem Kater zuwendend. „Geh schlafen oder geh Fliegen jagen oder leck Dich überall ab, aber verschwinde jetzt!“ Jorge blieb ungerührt. „Jorge, mach Dich davon!“ rief sie ihm zu, aber der Kater starrte weiter zu ihr. Dana sah sich gezwungen, aufzustehen und schubste ihn zuerst mit der Fußspitze und dann, als das nichts nützte, mit den Händen an, was ihn schließlich dazu veranlaßte, weg zu laufen, irgendwohin, zur Treppe, in die Küche. Egal, weg jedenfalls.
Dana seufzte, setzte sich, schaute auf die Mails, schaute auf die Antwort, die sie gerade zu schreiben begonnen hatte, schaute auf die Uhr. Schaute zur Treppe – sah Jorge, den Kopf, zwischen den Streben der Brüstung hindurch gesteckt, sie anstarrend.
„Verschwinde!“ schrie Dana. Seltsamer Weise war er tatsächlich sofort verschwunden, so rasch, dass Dana schon glaubte, sich getäuscht zu haben…
Doch um ihre Konzentration war es gänzlich geschehen.
Aber was erwartete sie von sich selbst? Der Tag war extrem gewesen, Ausnahmezustand. Wer konnte da schon genügend Konzentration aufbringen. Soviel durfte sie selbst nicht mal von sich verlangen. Sie beschloß spazieren zu gehen. Tat es auch, zog sich an, schloß die Türe hinter sich. Leise, wie zuvor Paul. Und ohne sich von Jorge zu verabschieden, wie zuvor Paul.

Als sie nach einem ausgiebigen Spaziergang unter Vermeidung von Tränen heimkam, aufsperrte, die Jacke auf hängte, aus den Schuhen schlüpfte, fiel ihr Jorge wieder ein. Oder vielmehr fiel er ihr auf. Denn er saß im Vorzimmer und starrte sie an. Von dem Augenblick an, als sie die Türe geöffnet hatte.

Dana runzelte die Stirne. Der Spaziergang hatte sie etwas versöhnlicher gestimmt und sie überlegte, ob Jorge sich anders verhielt als sonst. Wäre es einfach möglich, dass er durch Pauls Fortgang gestreßt war und nun dieses seltsame Verhalten an den Tag legte?
Armer Kater, wahrscheinlich ging es ihm furchtbar schlecht und er benahm sich deswegen so eigenartig. Dana hockte sich vor Jorge, der sie beharrlich anstarrte, ohne sich auch nur einen Hauch aus der eleganten Sitzposition, die er eingenommen hatte, weg zu bewegen.
Dana streckte die Hände aus und wollte ihn kraulen, doch da erhob er sich, um sich zwei Katzensprünge entfernt von ihr neuerlich niederzulassen und sie weiter anzustarren.
Dana war einfach überrascht. Dies war nun wirklich kein typisches Jorge-Verhalten und weiters etwas, was sie unbedingt neuerlich testen mußte. In der Hocke sich mühsam vorwärts bewegend, kam sie neuerlich nahe genug, um Jorge zu berühren. Und neuerlich erhob der Kater sich und ließ sich ein Stück weiter von ihr entfernt wieder nieder, gleiche Haltung, gleiches Starren.
Dana wurde ärgerlich. Nicht mit ihr. Nein, wirklich nicht. Sie stand auf, bedachte mit Jorge mit einem sehr strengen Blick, der absolut keine Wirkung hatte, außer ihr Genugtuung zu verschaffen und ging ins Bad. „Duschen, ja, Duschen, den Kopf reinmachen. Das ist jetzt angebracht.“
Natürlich saß Jorge vor der Dusche, als sie die Glastüre beiseite schob. Er war durch den kleinen Spalt, den Dana die Badezimmertüre immer offen stehen ließ um den Dampf entweichen zu lassen, herein gekommen. Natürlich starrte Jorge Dana an.
Dana fühlte sich nackt.
Gut, sie war nackt. Aber sie fühlte sich in ihrer Nacktheit beobachtet. Und das in ihrer eigenen Wohnung. Was wollte der Kater von ihr?
Dana wurde rot, sie errötete vor einem Kater und sie errötete, weil sie vor einem Kater errötete und sich nun mit einem Handtuch bedeckte. Und dann den Bademantel überstreifte.
Und das alles auch noch, in dem sie dem Kater, der mitten im Badezimmer saß und sich keine Bewegung von ihr entgehen ließ (wirklich, tat er das? Verfolgten seine Augen sie, ohne dass er den Kopf dafür drehen mußte?), vorsichtig auswich. Oder rücksichtsvoll. Ja, das gefiel ihr besser: rücksichtsvoll. Weil Jorge gerade die Trennung seiner Besitzer miterlebt hatte.
Jetzt konnte sie den Bademantel ausziehen, denn Jorge war nur ein armes Tier, das gerade eine schwere Krise durchgemachte, auch wenn er sie dabei anstarrte.
Dana entschloß sich, Jorges Verhalten genau als das zu betrachten, was es wohl war: stressbedingt. Er brauchte Schonung, er brauchte Verständnis. Er brauchte Danas liebevolle Geduld (etwas, was Paul nie zu schätzen gewußt hatte.). Dann würde er mit dem Starren wie von selbst aufhören. Ja, das würde er!

„Juli, der Kater ist verrückt!“ sagte Dana ins Telefon. Nachdem sie drei Stunden lang versucht hatte, einen Film, einen ihrer Lieblingsfilme, zu sehen, während Jorge zwischen Fernseher und Dana saß und sie anstarrte.
Juli überlegte. „Die Tochter meiner Nachbarin, nein, eigentlich die Schwiegertochter meiner Nachbarin – oder war es die Schwägerin der Tochter meiner Nachbarin? ...“ - „Juli, Schwiegertochter und Schwägerin sind ein und dieselbe Person!“ - „Dana, da irrst Du Dich. Die Tochter meiner Nachbarin kann eine Schwägerin habe, die die Frau ihres Bruders ist, also die Frau vom Sohn meiner Nachbarin oder die Schwester vom Mann der Tochter meiner Nachbarin. Also die Schwägerin ist die Schwester des Mannes von der Schwester des Sohnes meiner Nachbarin.“ - „Juli, es geht um den Kater!“ - „Ach so, ja. Also jedenfalls hatte sie eine Katze, die aus dem vierten Stock sprang.“ - „Also auch verrückt.“ - „Nein, damals war die Katze noch nicht verrückt. Sie fanden sie nach drei Tagen im Park in der Nähe, mit mehreren Brüchen, Platzwunden usw, aber das Tier hat es überlebt, kam zum Tierarzt und der flickte es zusammen.“ - „Hm…“- „Und dann wurde es verrückt. Es sprang plötzlich seine Besitzerin an, bevorzugt vom Kasten oder vom Kühlschrank runter, krallte sich am Kopf fest wie dieses mehrarmige Alienmonster, das die Astronauten ansprang zwecks Vermehrung.“ - „Eine Zombie-Katze sozusagen.“ - „Ja, sie trieb sie dann mit einem Besen in eine Ecke und sperrte sie ein, bis die Tierrettung kam und sie mitnahm. Später hat sie sie noch einmal im Tierheim besucht. Als die Katze die Frau sah, sprang sie sofort ans Gitter und versuchte sich auf sie zu stürzen. Sie haben sie daraufhin eingeschläfert.“ - „Hm..“ Dana schaute zu Jorge, der sie nur anstarrte. Sie versuchte zu entdecken, ob er irgendwelche Tendenzen zeigte, sie anzuspringen.
Aber dem war nichts so. (Andererseits hatte Dana keine Ahnung wie eine Katze war kurz bevor sie zum Berserker wurde.) „Meinst Du, ich sollte Jorge einschläfern?“ „Nein, er ist ja nicht aus dem vierten Stock gefallen. Aber pass auf, wenn er auf dem Kasten sitzt und Du vorbei gehst und schau darauf, dass Du immer einen Besen zur Hand hast.“ Dana beschloß Julis Rat zu folgen, auch wenn ihr dies reichlich absurd erschien.
„Hast Du vor Dich in irgendwas zu verwandeln?“ fragte sie Jorge. Doch der starrte sie nur an.

Dana ging schlafen. Das Bett neben ihr war noch zerwühlt von Paul, der es heute morgen wie jeden Tag verlassen hatte, und sie ärgerte sich, weil sie verabsäumt hatte, die Bettwäsche zu wechseln. Sicher war es verschwitzt, weil Paul in den letzten Tagen – in den letzten Nächten, in DER letzten Nacht – so unruhig geschlafen hatte. Sicher roch es nach Schweiß. Sicher brauchte sie erst gar nicht daran schnuppern, um es zu riechen. Pauls Schweiß. Paul.

Sie schlief ein, eine Hand auf dem leeren Polster neben ihr liegend.
Dann wachte sie auf, später, ohne wirklich geweckt zu werden, einer dieser kurzen Momente zwischen zwei Schlafphasen, in denen man kurz die Augen öffnet als wolle man sich vergewissern, dass es noch Nacht ist, sie gleich wieder schließt und neuerlich einschläft.
Doch Dana schloß die Augen nicht. Denn am Fußende des Bettes, dort wo eigentlich Pauls Füße gelegen hatten, letzte Nacht, saß Jorge und starrte Dana an. Durch die dämmrige Dunkelheit des Schlafzimmers, und doch klar erkennbar.
Dana starrte zurück, mit jedem Augenblick wacher werdend und mehr entfernt von der nächsten Schlafphase. Dann packte ihre Hand den Polster- Pauls Polster – und schleuderte ihn nach dem Kater, der eigentlich Pauls Kater war. Jorge schoß davon, verschwand in der Dunkelheit, irgendwo raus aus dem Zimmer.
Dana schloß die Augen, presste die Lider zusammen und versuchte nicht an Jorge zu denken, und auch nicht an Paul. Aber sie war nie gut darin gewesen, an etwas nicht zu denken.

Als sie am Morgen aufwachte, erwartete sie Jorge und wurde nicht enttäuscht. Er saß am Boden vor dem Bett, katerhaft, sittsam, starrte.
Dana starrte zurück. „Ich habe Zeit“, dachte sie. „Es ist Sonntag und ich habe Zeit. Ich habe keinen Morgensex, daher habe ich Zeit, mit Dir um die Wette zu starren.“ Und nach einer Pause. „Mein Gott, ich starre mit einem Kater um die Wette.“
Trotzdem hörte sie nicht auf.
Sie tat es circa zehn Minuten später, als ihre Augen zu tränen begannen.
Das war auch der Zeitpunkt, als sie begann, auf Jorge wütend zu werden. Sie stand auf. Dann gab sie ihm einen Tritt. Natürlich wich Jorge rechtzeitig aus. Natürlich war sie im Grunde froh, dass sie Jorge nicht mal gestreift hatte. Aber sie wußte, dass es damit nicht vorbei war.
Dana verbrachte den Sonntag vormittag mit Hausarbeiten und dem Versuch ihre Kolumne zu schreiben. Und Jorge beobachtete sie. Sie schrieb schließlich ihre Kolumne, machte aus einem der Versuche den endgültigen Text und bereitete ein Interview vor. Dann aß sie eine Kleinigkeit, betrachtete 15 Minuten lang die selbe Seite eines Buches um Jorge zu zeigen, dass sie ihn nicht beachtetet und verließ dann die Wohnung für eine Trip ins Fitneßcenter. Jorge erwartete sie bei ihrer Heimkehr. Er starrte, sie starrte zurück. Jorge starrte länger, sie versuchte ihn zu ignorieren, dachte an einen Besen und an Zombiekatzen.
Warum hatte Paul den Kater nicht mitnehmen können?
Sollte sie Paul anrufen?
Nein, sollte sie nicht.
Würde sie nicht. Nicht wegen einem Kater. Überhaupt nicht.

Dana sah fern, Jorge sah Dana beim Fernsehen zu.
Beim Duschen sah er ihr nicht zu, denn es gelang ihr, die Badezimmertüre zu schließen, bevor er hereinkommen konnte. Aber er wartete draußen.
Dana träumte von Jorge und wenn sie aufwachte, verspannt, angespannt, war Jorge da.
Am nächsten Morgen war Dana fiebrig, hustete, ihr Kopf dröhnte.
Natürlich könne sie auch von zuhause aus die Unterlagen vorbereiten, meinte ihre Chefin. Dana wußte, dass das hieß, dass sie ausnahmsweise nicht mit Fieber ins Büro kommen mußte. Zumal sie „ja eine Trennung hinter sich“ hatte, und „alle hier“ hatten „Verständnis für so eine schlimme Situation.“ Dana war zornig. Auf ihre Chefin. Auf Paul, auf Jorge, auf Paul, der Jorge bei ihr zurück gelassen hatte.
War es möglich, dass Paul ihm dieses Starren beigebracht hatte?
Dana fühlte sich elend, und legte sich wieder ins Bett, damit sie sich dort angemessen elend fühlen konnte. Jorge leistete ihr Gesellschaft.
Am nächsten Tag war das Fieber gestiegen. Danas Kopf war am bersten, jeder Atemzug mündete in einem Hustenanfall.
„Grippe“, sagte ihr Hausarzt, der vorbei kam. Und: „Was haben sie da für eine entzückende Katze, wie liebevoll sie sie ansieht!“.
Konnten Katzen Grippe übertragen, wollte Dana wissen. Als der Arzt lachte, unterließ sie es, ihn über die ersten Anzeichen von Geistesgestörtheit bei Katzen zu fragen.
Das Fieber stieg weiter an, Dana schlief und schlief auch nicht, Jorge war da, zu jeder Tageszeit, zu jeder Nachtzeit, am Fuße der leeren Bettseite, neben dem Bett, unter dem Fenster, in der Türe. Seine grünen Augen ließen Dana nicht aus dem Blick. Nicht, als sie Tee machte, nicht als sie den Pyjama wechselte, nicht als sie sich aufs Klo schleppte. „Der Kater schaut mir beim Pinkeln zu!“ grollte Dana schließlich, dann packte sie ihn.
Erstaunlich eigentlich, dass das jetzt möglich war! Dache sie, als sie, die Pyjamahose um die Knie schlotternd, den zappelnde Kater in den fieberheißen Händen von sich haltend, zum Stiegenabgang ging. Erstaunlich, dass ich ihn schnappen konnte. „Hey, das hast Du jetzt nicht erwartet, stimmts?“ brachte sie hervor und schaffte sogar ein Lachen. Wenn sie es geschafft hätte, die Pyjamahose hoch zu ziehen, hätte diese Aktion sogar etwas Triumphales an sich gehabt. Doch so war es etwas schräg, als sie so über das Stiegengelände gebeugt stand. Und losließ.
Jorge fiel – und er fiel auf die Treppe, genauer gesagt auf die dritte Stufe von unten. Dann lag er bewegungslos da, den Kopf nach oben gerichtet, starrte.
Einen Augenblick lang hatte Dana Angst, dass etwas schief gegangen war. Vorsichtig ging sie zwei Schritte zur Seite, schaute dabei nach unten, erwartete, dass sich Jorges Kopf bewegte, damit er sie im Blick behalten konnte. Doch der Kater blieb regungslos.
Dana wollte lachen, was ihr aber dann in Anbetracht des Zustands ihrer Pyjamahose unpassend erschien, wäre es doch nicht wirklich ein Triumphlachen geworden. Daher zog sie einfach die Hose hoch und ging die Treppe hinunter.
Keine neun Leben, eines nur, und das war nun zu ende.
Dana überlegte, ob sie in ihrem Zustand in der Lage war, zu überprüfen, ob Jorge tatsächlich tot war.
Aber in Anbetracht ihres Zustandes ging sie einfach davon aus, dass ein Kater, der mit dem Rücken auf eine Treppe fiel und sich danach nicht mehr bewegte, tot sein mußte.
Keine Zombiekatze, kein Besen notwendig.

Am nächsten Tag kam Juli vorbei und brachte Hühnersuppe, instand zwar, aber zumindest das Hühnerfleisch hatte sie selbst gekocht.
„Wo ist Jorge?“ fragte Juli.
„In der Küche“, Sagte Dana. „Er starrt nicht mehr.“
„Dann ist es ja gut, es war nur eine Phase.“ Antwortete Juli.
Ja, nur eine Phase, dachte Dana.

Die Weinkiste (6 Stück südspanischer Rotwein) im Kühlschrank nahm Platz weg, den Dana im Grunde aber nicht brauchte, doch das permanente Surren des auf die kälteste Stufe gedrehten Kühlschranks störte Dana in ihrer Rekonvaleszenz.
Am übernächsten Tag erledigte sie einen Postweg, bevor sie zu ihrem Hausarzt ging, um das Ende ihres Krankenstandes bestätigen zu lassen.
„Wie geht es Ihrem Kater?“ fragte diese abschließend. „ Ich mußte ihn an meinen Ex-Freund übergeben“, antwortete Dana. „ Er hat unter der Trennung gelitten.“
„Der Kater oder Ihr Ex-Freund?“ wollte der Arzt wissen.
„Der Kater, Herr Doktor, das arme Tier. Ich konnte es nicht mehr mit ansehen.“

Samstag, 24. März 2007

„ ... THEN MEND IT, THEN MEND IT.“

Kilian saß an seinem Schreibtisch im Arbeitszimmer, als er es zum ersten Mal sah.

Eigentlich hatte er gerade ein paar Pornoseiten aufgerufen und war auf was Stimulierendes gestoßen. Um die Stimulans zu fördern, schob er den Sessel etwas vom Tisch weg, um eine bequemere Position zu finden, die ihm auch freien Zugang zu dem bot, was er da zu stimulieren gedachte. Er fummelte gerade an seiner Hose rum, holte raus, was rauszuholen war, setzte an .. und dann sah er es.

Wahrscheinlich hätte er es in der momentanen Stimmung, die Gedanken eher bei den beiden vollbrüstigen Blondies, die gerade dabei waren, sich gegenseitig was Gutes zu tun, übersehen, wenn es nicht ein wenig gezittert hätte.

Nein, zittern war das falsche Wort – Kilian war wirklich kein Techniker, aber es schien das Wort „fluktuieren“ noch passender. Und es erregte seine Aufmerksamkeit.

Vorsichtig, seine Halbmastposition berücksichtigend, stand er auf und ging auf die Zimmerecke neben dem Schreibtisch zu. Zwischen Bücherregal und dem Keramiktopf von Katjas umsorgtem zwei Meter hohen Gummibaum, gegenüber der Ecke mit der Asherman-Skulptur befand es sich, etwa eine Spanne von der Sesselleiste entfernt, mitten am Parkett.

Es war ein Fleck, vielleicht drei Zentimeter im Durchmesser, schwarz im spärlichen Licht der Schreibtischlampe. Ein runder Fleck mit fluktuierenden, zitternden Rändern.

Kilian starrte drauf, als ob plötzlich eine Giftspinne sein Arbeitszimmer als Wohnstatt okkupiert hätte. Er wusste, dass sich ein Fleck nicht bewegen konnte, und doch sah er, wie dieser Fleck es tat. Ein unregelmäßiges Pulsieren und Zucken, ein Wabern, ein Beben.

Kilian merkte, wie er plötzlich verärgert wurde. Der Fleck störte ihn. Nicht nur, dass er grundsätzlich da war und somit seine Herkunft noch ermittelt werden musste. Nein, dieser Fleck erdreistete sich auch noch, ihn durch seine unorthodoxen Bewegungen davon abzuhalten, was er gerade hatte tun wollen. Und das schätzte Kilian schon gar nicht.

Also beschloss er, den Fleck zu ignorieren. Denn wo käme er denn da hin, wenn er sich durch so etwas irritieren lassen würde!
Er kehrte zurück zu seinem Schreibtisch, ließ sich in den Sessel fallen und startete neuerlich den Videoclip, zu dem er sich zuvor mittels Passwortknackerprogramm illegal Zutritt verschafft hatte. Wie auf Kommando stöhnten die Blondies los, rieben ihre Möpse und sonst noch was aneinander und begannen mit allerlei Gummizeug zu spielen.
Kilian begann seinerseits erst herumspielend, dann immer ernsthafter und rhythmischer an sich zu werken und fing beim ersten Klimax der Blondies selbst zu schnaufen an.
Dann ein Zucken am Rande des Blickfelds, rechts von ihm, zwischen Gummibaum und Fenster.
Der Fleck hatte sich wieder bewegt.
Kilian grunzte und spürte im selben Augenblick erschlaffen, was sich angesammelt hatte.
Er fluchte laut während die Blondies weiter ihre Ouhsss und Ahhhs von sich gaben.
Das Ding nervte und er begriff, dass er keine Befriedigung finden konnte, solange es da war.

Was hatte so ein Fleck hier in seinem Zimmer verloren?

Katja würde was zu hören bekommen, wenn sie wieder vom Urlaub zurückkam. Wie oft hatte er ihr schon gesagt, dass sie nachkontrollieren musste, wenn Svetlana zum Putze angetreten war. Wie konnte sie so was übersehen haben?

Kilian verließ sein Arbeitszimmer, suchte im Abstellraum herum, bis er etwas Brauchbares fand und fühlte sich an seine Junggesellenzeit erinnert, als er – nachdem er seiner Mutter, die sich über die gebrauchten Kondome unter dem Bett beschwert hatte – verboten hatte, seine Wohnung zwecks Aufräumen zu betreten, selbst fürs Putzen zuständig gewesen war.

Mit einem Lappen und einer Flasche Allzweckreiniger kehrte er ins Arbeitszimmer zurück.
In einer Position, die er fast als unwürdig empfand, nämlich am Boden kniend, wobei er sich gemahnte, wieder mal ins Fitnessstudio zu gehen, tränkte er den Lappen mit reichlich Reiniger und machte sich über den Fleck her.
Er setzte am Rand an und rutschte im nächsten Moment mit dem Putzlappen ab.
Es war kein Fleck – es war ein Loch.

„Was zur Hölle...!“ Kilian starrte auf das schwarze Ding vor ihm, das nervös zu wackeln schien, soweit etwas Zweidimensionales wackeln konnte.

„Das darf doch nicht wahr sein!“ Kilian hatte Katja hundert Mal angewiesen, den Kindern zu verbieten, in seinem Arbeitszimmer zu spielen. Offenbar hatte sie sich wieder mal nicht durchsetzen können und die Kinder hatten hier in seiner Abwesenheit toben dürfen.
Wenn die zurückkamen, dann....

Das Lock zuckte und ... wurde größer, um eine Winzigkeit, aber doch.
Kilian kniff die Augen zusammen, aber er wusste, er hatte sich nicht getäuscht. Instinktiv stopfte er sein mittlerweile vollkommen erschlafftes Ding zurück in die Hose.

Vorsichtig tastete er mit einer Ecke des Putzlappens noch mal drüber und die Ecke drang in das Loch ein, ohne Widerstand.
Was hatten die Kinder hier aufgeführt? Er sah sie im Geiste ausgerüstet mit seiner Werkzeugbox in sein Arbeitszimmer stürmen, dabei die teuren Soundboxen rammend, die Asherman-Skulptur zertrümmernd und schließlich wie die Furien über den Parkett herfallend.
„Taschengeldentzug“ tönte es in ihm, allein schon der Mühe wegen, dass er Katja nun anhalten musste, einen Bodenleger kommen zu lassen, um den Schaden auszubessern.
Er erhob sich, verärgert, aus mehreren Gründen und die Tatsache, dass ihm nun die Lust, sich einen runter zu holen, vergangen war, war einer davon.

Das Loch zuckte. Und wurde wieder größer.
Und Kilian wurde wütender.

Er ging, nein stürzte neuerlich in den Abstellraum, griff sich eine dort von Katja für eventuelle Stromausfälle bereitgestellte Taschenlampe, rechnete mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit damit, dass die Batterie leer war und stürmte zurück ins Arbeitszimmer, fiel neuerlich auf die Knie und knipste die Lampe an, die erstaunlicher Weise sogar funktionierte.

Der Lichtkegel zielte direkt in das Loch hinein, aber dieses blieb schwarz, was irgendwie – soweit reichte Kilians naturwissenschaftliche Kenntnis aus der Schulzeit noch – unmöglich war. Aber egal, wie er die Taschenlampe ausrichtete – das Loch blieb schwarz und entzog sich somit jeder Erkundung.
Aber so schnell lies Kilian nicht locker – nein, er nicht. Er war als harter Verhandler, als präziser, mit der Fähigkeit zu messerscharfen Analysen ausgestatteter Ressortchef bekannt und den Ruf würde er doch einem Loch gegenüber nicht verlieren.

Auf Knien – welch unwürdige Art – bewegte er sich zum Schreibtisch, griff dort nach einem Kugelschreiber und beugte sich neuerlich über den Eindringling in seinem Arbeitszimmer.

Wie ein Chirurgeninstrument nahm er den Stift zwischen Zeigefinger und Daumen, die anderen Finger weggespreizt, und begann in das Loch zu stochern, die Taschenlampe noch immer darüber haltend. Kilian achtete darauf, nicht mit den Fingern unter das Niveau des Randes des Lochs zu kommen. Mühelos schob er das Schreibgerät immer tiefer hinein, ohne irgendwo anzustoßen. Das Licht reflektierte von dem Gegenstand, nicht aber von irgendetwas rundherum.
Rasch zog er den Kugelschreiber wieder heraus und kam dabei mit dessen Spitze am Rand des Loches an. Dieser gab nach, weich, federnd, in Wellen zuckend. Und das Loch wuchs wieder, nur ein Stück, aber sein Durchmesser war auf fast fünf Zentimeter angewachsen.

Kilian spürte, wie Schweiß auf seiner Stirn erkaltete.
Sein Verstand arbeitete und das Ergebnis war nicht erbaulich.
Aber Kilian war kein fantasiebegabter Mensch und seine Imaginantionsfähigkeit erstreckte sich vor allem auf Wachstumsprognosen und zukünftige Wirtschafts- – und Personalkostendaten.
Doch sein Verstand sagte ihm klar, dass er hier im Augenblick nichts ausrichten konnte, was natürlich nicht hieß, dass er kapitulierte.

Aber er war nicht bereit, einem Loch eine dermaßen große Bedeutung angedeihen zu lassen.
Also knipste er die Lampe aus und erhob sich.

Dann ging er zu seinem Schreibtisch zurück, starrte unverwandt auf den Bildschirm, auf dem als Standbild und in Großaufnahme die zentralen Regionen der einen Blondie zu sehen waren. Aber ihm war nun endgültig die Lust vergangen. Er fuhr den PC herunter und knipste die Schreibtischlampe aus. Bevor er das Zimmer verließ, schob er noch den Topf mit dem Gummibaum über das Loch – aus den Augen, aus dem Sinn – und ging ins Obergeschoss zu Bett.

Am nächsten Morgen war er wie immer in Eile und wurde eigentlich erst im Auto, in Ahnung des ersten (von etwa fünf) morgendlichen Kaffees, die ihm Sigrid in gewohnter Routine in Fünfzehnminutenabstand zu servieren hatte, so richtig munter.

Das Loch hatte keine Präsenz in seinem Tagesablauf.

Er unterschrieb, was Sigrid, die vor ihm im Büro war, ihm vorlegte, trank seine Kaffees, erarbeitete eine Quartalsanalyse, feuerte zwei Mitarbeiter, in dem er ihre Kündigungen unterzeichnete, die ein nervöser Gruppenleiter dann auszuhändigen hatte, telefonierte mit dem Head Quarter, nahm sein Mittagessen mit zwei seiner ranggleichen Kollegen ein und war gemäßigt jovialen zum dritten, einem rangniedrigerem, der als kleines Incentiv bei den Grossen dabei sein durfte, nahm an einer Konferenz teil, begutachtete die beiden neu aufgenommenen Sachbearbeiterinnen in der Personalverrechnung, bekam eine Erektion beim Anblick der einen der beiden, einer vollbusigen Kleinen mit einem Pferdehintern, lud sie für später auf einen Begrüssungstrink ein und arbeitete bis nach 18 Uhr an einem Vortrag vor dem General Overhead.
„Vergessen Sie nicht, ihre Gattin anzurufen“, gemahnte ihn Sigrid, als sie sich verabschiedete. Kilian nickte nur, nahm wohlwollend Sigrids Zuverlässigkeit zur Kenntnis und ignorierte den Inhalt der Erinnerung.

Ebenso ignorierte er das Blinken des Anrufbeantworters, nach dem er vier Stunden und drei Runden mit der kleinen vollbusigen Sachbearbeiterin später, nach hause kam.

Er ging geradewegs ins Schlafzimmer rauf, duschte, wusch sich den Sexgeruch vom Körper, war bar jeder Geilheit und vergaß daher ganz, unter der Dusche zu masturbieren und fiel in sein Bett und schlief sofort ein.

Irgendwann ein paar Stunden nach Mitternacht riss ihn ein Geräusch aus dem Schlaf: ein lautes Schleifen gefolgt von ein paar schmatzenden, fetten Lauten.

Kilian war schlagartig wach.
Er überlegte kurz, ob er die Waffe mitnehmen sollte, die in seiner Nachttischlade lag, ließ es aber sein. Solche Geräusche machten keine Einbrecher. Stattdessen nahm er sein Handy, obwohl es obskur war, anzunehmen, dass er bei einem Angriff noch rasch genug die Polizei rufen hätte können.

Das Geräusch war von unten gekommen. Und so ging Kilian, in Shorts und T-Shirt, mit dem Handy in der Hand im Dunklen die Treppe hinunter.
Im Erdgeschoss war es still. Sehr still. Was immer das Geräusch verursacht hatte, es ruhte nun – oder war nicht mehr da.

Kilian ging vorsichtig von Zimmer zu Zimmer, knipste die Lichter an und ließ sie eingeschaltet, als ob er damit vermeiden wollte, zwei Mal das gleiche Zimmer zu untersuchen. Wohnzimmer, Esszimmer, Küche, Abstellraum, Wintergarten, Gästezimmer, Arbeitszimmer,..... Auch hier nichts.
Doch.
Etwas war anders.
Aber hier war niemand in dem Raum.
Hier fehlte etwas!
Der Gummibaum war verschwunden.
Kilian schluckte.
Und dann wusste er, was das Geräusch verursacht hatte.

Das Loch war gewachsen. Es war größer geworden.
Es war groß genug geworden, um einen zwanzig Liter Erde fassenden Blumentopf zu schlucken und die darin wurzelnde zwei Meter hohe Zimmerpflanze gleich hinten nach.

Das Loch hatte mittlerweile einen halben Meter Durchmesser und Kilian stand davor, in sein schwarzes Inneres starrend. Der Rand des Loches wabberte, pulsierte unrhythmisch, weich, verschwommen, diffus, als wäre es nicht genau abgrenzbar gegen seine Umgebung.

Der Bereich unter dem Arbeitszimmer war nicht unterkellert.... Erdreich befand sich unmittelbar unter Estrich, Fundamentplatten, Drainagen.

Wühlmäuse?
Kilian kicherte, schüttelte dann den Kopf. „Schwachsinn.“
Er nahm sich vor, nun selbst was zu unternehmen und es nicht Katja zu überlassen, die damit ganz sicher überfordert sein würde.

Kilian – der Herr der Lage. Kilian – der Mann, der die Gewerkschafter erzittern ließ – Kilian in Shorts und Shirt, bloßfüssig– der in den Lagerkeller rannte und dort ein paar von den restlichen Zaunlatten, die Werkzeugbox und eine Schachtel 6-Zoll - Nägel holte.

Während er am Boden kniend, die Latten am Parkett festnagelte, gratulierte er sich, dass er sich dieses Haus in dieser Lage leisten konnte, wo es in dreihundert Meter Umkreis keine idiotischen Nachbarn gab, die sich über ein lautes Hämmern um drei Uhr Nachts beschweren hätten können.

Als er fertig war, starrte er auf sein Werk, das aus fünf mehr oder weniger sternförmig sich über dem Loch kreuzenden Brettern bestand. Er war wirklich mit sich zufrieden und beschloss nun zu Bett zu gehen. Für ihn war die Sache erledigt und morgen würde er einen Tischler anrufen. Oder übermorgen, da ja nun keinen Eile mehr bestand.
Er ging zu Bett.

Am nächsten Morgen bestand für ihn definitiv kein Grund, die Türe zu seinem Arbeitszimmer zu öffnen, also tat er es auch nicht.

Aber das Loch war da.
Und er dachte daran.

Gegen Mittag fiel ihm ein Katja anzurufen.
Sie hob sofort ab und er brachte die bereitgelegte Ausrede an, warum er sie gestern nicht angerufen hatte. Sie erzählte Belanglosigkeiten von ihrem Urlaubsort, von den Kindern und er fragte sich schon, warum er sich den Anruf angetan hatte.
Dann fragte er sie ganz beiläufig nach dem Benehmen der Kinder in den Tagen vor der Abreise, bekam aber keinen Hinweis, ob sie von dem Loch im Arbeitszimmer Notiz genommen hatte oder gar eine Erklärung hätte liefern können.

Später ertappte er sich, als er über 15 Minuten auf die immer gleiche Seite des Protokolls der letzten Vortandssitzung starrte, während er mit den Füssen wippte.

Als er Abends, nach der Sauna mit seinen beiden besten Freunden, getrennt, nicht gemischt - ab und zu mussten Männer unter sich bleiben - , heimkam, stand er fünf Minuten vor der geschlossenen Türe seines Arbeitsraumes, bis er bereit war, sie zu öffnen.

Er sah das Loch nicht.
Denn das Bücherregal verdeckte es, mit der Rückwand nach oben.
Das Regal war in etwa zwei Meter hoch und über einen Meter breit, und war über das Loch gekippt, als dieses bei seinem Wachstum die Unterkante des Möbels erreicht hatte.

Einen Augenblick lang dachte Kilian an die Zweihundert Bücher, die das Regal beinhaltet hatte, inklusive der Originalschrift seiner Dissertation. Er war wütend, er war schrecklich wütend.
In diesem Moment wuchs das Loch wieder ein Stück und das Regal kippte gänzlich über den wabbernden Rand in das schwarze Nichts darunter.
Kilian erwartete – ganz kausal denkend – ein dumpfes Rumpeln oder krachendes Splittern, mit dem das Regal am Boden des Lochs oder wenigstens irgendwo aufschlug.
Aber es blieb vollkommen still. Das Ausbleiben eines jeglichen Geräusches ließ Kilians Wut verfliegen.

Er dachte nach und analysierte die Situation.
Er stand vor einem Loch unbekannter Herkunft, dass sich in seinem Arbeitszimmer, in seinem Haus, auf seinem Grundstück befand und in das soeben sein Bücherregal gefallen war. Er überlegte, ob es Sinn machte, die Wachstumsprognose des Loches zu berechnen, was er an seinem Heim- PC durchaus hätte tun können. Dazu hätte er aber den Raum betreten müssen, woran ihm im Augenblick nichts lag.

Kilian drehte sich um und nahm sein Handy aus der Aktentasche.

Er wählte die Nummer von Judith, seiner Geliebten – nein, nicht ganz richtig, korrigierte er sich im Geiste. Geliebte pflegte sie sich selbst zu nennen, da sie der hartnäckigen Einbildung nachhing, er, Kilian würde etwas für sie empfinden.
Was ja nicht ganz so falsch war, wenn man die sexuelle Erregung, die er erlebte, jedes Mal, wenn er sie anfasste als emotionale Empfindung bezeichnete.
Aber sollte sie das glauben, denn solange sie das tat, war sie willig, sich von ihm ficken zu lassen, und mehr wollte er nicht von ihr.

Nur jetzt benötigte er doch etwas anders. Judith war Naturwissenschafterin, Biochemikerin zwar, aber zumindest konnte sie in der vorliegenden Kausa unter Umständen mehr Auskunft geben, als er selbst es fähig war. Was er sich natürlich nicht anmerken lassen durfte.
Niemals bat er eine Frau um Hilfe. Aber in Anbetracht des geräuschlosen Verschwindens des Bücherschrankes, hatte er beschlossen, eine Ausnahme zu machen.

Judith hob bereits nach zweimaligem Läuten ab.
Sie war ausgesprochen verwundert, dass er sie um diese Uhrzeit anrief. Ansonst war ein Telefonat am Abend Tabu. Kilian war ja nicht so verrückt, seine Ehe zu gefährden.
„Wo ist Katja?“ fragte Judith sofort?
„Seit letzter Woche auf Urlaub mit den Kindern, aber darum geht es jetzt nicht….“
„ Sie ist weg und Du meldest Dich erst jetzt?“ kam es sofort zurück.
„Judith, das ist jetzt nicht Thema“ herrschte Kilian sie an.
„Früher warst Du sofort bei mir, wenn sie mal nur einen Theaterabend hatte. Und jetzt rufst Du mich erst nach einer Woche an?“ Judith war hörbar wütend.
Kilian fühle sich plötzlich in der Defensive – nein, so durfte das Gespräch nicht verlaufen.
„Judith, ich fick Dich noch heute Abend, aber jetzt will ich was anderes von Dir“
„Was sagst Du?“ Judiths Stimme hatte plötzlich einen eigenartigen Tonfall.
„Ich habe ein Loch in meinem Arbeitszimmer, das wächst und ich will wissen, was das ist!“
Kilian hörte Judith schweigen. Es war kein Gutes verheißendes Schweigen.
Dann holte sie vernehmbar Luft. „Du rufst mich an wegen eines Loches?! Verflucht, was bist Du für ein Dreckskerl. Du weißt, wie gern ich mit Dir zusammen sein will. Aber meine Gefühle sind Dir ja so verdammt egal. Du meldest Dich nur, wenn Du was brauchst und denkst überhaupt nicht an mich!“
Kilian wollte schon dazwischenfahren, dass er eben gerade an sie gedacht hatte, aber Judith fuhr schon fort. „Du hast also ein Loch… Weißt Du was? Dann spring rein und vergiss mich!“
Und dann legte sie auf.

Kilian stand einige Augenblicke lang mit dem Handy am Ohr und hörte dem Besetztzeichen zu. Er konnte nicht fassen, dass Judith ihn so abserviert hatte.
Was bildete sich diese Frau eigentlich ein!!!!
So was würde er sich nicht bieten lassen, und wenn sie anderntags im Staub daher gekrochen käme und um Entschuldigung flehte…

Dann hörte er ein kurzes, schleifendes Geräusch – aus dem Arbeitszimmer.
Er wusste, er musste nachsehen. Er wollte es ganz sicher nicht tun. Aber er würde es tun.

Es war der Schreibtischsessel, der nicht mehr vorhanden war.
Der Schreibtisch selbst hing mit einem Bein über dem schwarzen Abgrund, denn das Loch hatte mittlerweile einen Durchmesser von zwei Metern.

Sein Schreibtisch… ein Designerstück .. darauf sein PC .. der modernste, der derzeit um Geld zu bekommen war.. Nein, das würde sich Kilian nicht gefallen lassen.
Er stürzte in das Zimmer, packte den Tisch und schleifte ihn hinaus in den Flur, in Sicherheit. Sollte das Loch nach anderer Beute Ausschau halten, diesen Tisch und diesen Computer würde es nicht bekommen.
Kilian fühlte sich wie ein Sieger.
Zufrieden schloss er die Türe, positionierte den Schreibtisch an der Flurwand, ging ins Obergeschoss, dusche und begab sich zu Bett.
Vor dem Einschlafen beschloss er nun endgültig am nächsten Tag den Tischler anzurufen, und auch gleich einen Zimmermann. Außerdem musste er einen neuen Schreibtischsessel besorgen, was aber Sigrid übernehmen könnte….

In Erwartung, dass die Angelegenheit spätestens bis zum Abend erledigt sei, verließ er das Haus. Die Tür zum Arbeitszimmer blieb geschlossen.

Sigrid war eine Perle und arrangierte noch für den gleichen Nachmittag das Eintreffen der Handwerker und für tags drauf die Lieferung eines neuen Scheibtischsessels.
Kilian beglückwünschte sich selbst, Sigrid eingestellt zu haben und weiters, dass sie so absolut reizlos war, sodass sie nie in Versuchung geraten würde, einen Liebhaber zu haben, der sie vom Arbeiten für ihn, Kilian abhielt, bzw. ihn, Kilian vom Arbeiten abzuhalten, in dem er bei ihrem Anblick eine Erektion bekommen hätte, so wie bei der kleinen dunklen Sachbearbeiterin.

Kilian ließ mittels Boten einen zweiten Hausschlüssel zu dem bestellten Zimmermann bringen und erwartete, am Abend alles im gewohnten Zustand vorzufinden.

Er fand es im gewohnten Zustand vor. Denn das Loch war nach wie vor vorhanden – von den Professionisten fehlte jedoch jede Spur.

Der wabernde Rand des Loches – sein Durchmesser war auf drei Meter gestiegen - fraß bereits die Sockelleisten an. (Waren es eigentlich tragende Wände, die das Arbeitszimmer gegen die Veranda und das Gästezimmer abgrenzten?) Der japanische Reisteppich, der am Vorabend noch da war, war nicht mehr zu sehen.

Das einzige, was sich noch im Raum befand, war die Asherman-Skulptur.


Die Asherman-Skulptur!

Er hatte eine halbe Weihnachtsgratifikation dafür gezahlt, und sie auch nur erhalten, weil er mit dem Neffen des Künstlers im gleichen Golfclub spielte. Katja hatte getobt, denn sie hätte das Geld lieber im Ausbildungsfond der Kinder gesehen. Nichtmal der Solitär, der für sie abfiel, hatte sie milder stimmen können. Aber noch bestimmte er über das Geld, das er heimbrachte.

Also alles, nur nicht der Asherman!

Kilian fühlte gewaltigen Zorn in sich aufsteigen.
Die Skulptur stand in der, der Türe gegenüberliegenden Ecke des Zimmers, 15 cm vom zuckenden Rand des Loches entfernt.

„Du kriegst sie nicht!“ zischte Kilian.
Er erfasste die Situation mit einem Blick. Der Rand des Loches hatte die Seitenwand erreicht und begann sich in die Mauer zu fressen.
Noch war es aber möglich, mit einem großen Schritt, darüber hinweg zu steigen und in die andere Zimmerecke zu gelangen – ein problemlos machbares Unterfangen.

Es bedurfte wirklich nur eines großen Schrittes – Kilian vermied es, dabei hinunter zu schauen – um über die Schwärze zu steigen und schon befand er sich in der Ecke mit der Skulptur. Er hob sie hoch und bemerkte, wie schwer sie war – kein Wunder, reine Bronze, dachte er bei sich – und daher allein schon deswegen zu schade, um sie dem Loch zu überlassen.
In diesem Augenblick, als Kilian, die Figur haltend, wieder über das Loch steigen wollte, wuchs es neuerlich und fraß sich an Kilians Schuhspitzen heran, jene Stelle wegfressend, auf der gerade zuvor der Asherman gestanden hatte.

Kilian trat einen Schritt zurück und spürte die Wand im Rücken.
Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Ihm gefiel die Situation nicht, da das Loch nun die Distanz von festem Boden zu festem Boden auf mehr als einen Meter verbreitert hatte, größer als seine Schrittlänge also.

Er starrte in die Finsternis unter sich und dachte nach. Der Schweiß auf seiner Stirn fühlte sich klamm an. Er stand auf dem verbliebenen Bodenstück in der Ecke des Zimmers, ein Dreieck mit gerade fünfzig Zentimeter Seitenlänge auf der einen Seite begrenzt (wirklich begrenzt?) durch den zuckenden, fluktuierenden Rand des Loches, der sich auf ihn zuzuarbeiten schien, Millimeter um Millimeter des Parketts in seiner Schwärze verschwinden ließ.

Kilian blieb keine andere Wahl, er musste springen.
Schwer wog der Asherman in seinen Händen, aber er würde ihn nicht hier zurücklassen und dem Loch übergeben. Um keinen Preis der Welt. So einen Niederlage würde er nicht hinnehmen wollen!

Noch zögerte er, dann höre er das Telefon draußen läuten. Der Anrufbeantworter sprang sofort an und nach der kurzen Ansage hörte er Katjas Stimme.
„Die Kinder sind krank, wir kommen morgen schon heim. Sei doch so gut und ruf Svetlana an, damit sie putzt, bevor wir heimkommen. Du hast ja sicher keine Zeit zum Aufräumen gehabt, Schatz!“

„Mach das doch selbst, „Schatz“ „ zischte Kilian, und sprang, da er keinen Schwung holen konnte, aus dem Stand vorwärts, den Asherman festhaltend.

Schwer war die Skulptur, und selbst als er sie dann doch losließ, gelang es ihm nur mehr, den Rand des Loches zu fassen. Diesen weichen, wabernden Rand.

Und er glitt ab daran.
Und er fiel, während vom Anrufbeantworter nur mehr das Besetztzeichen erklang.





Als Katja am nächsten Abend mit den Kindern heimkam, bemerkte sie auch beim zweiten Rundgang durch das Haus nicht, dass das Arbeitszimmer nicht mehr vorhanden war, sondern die Veranda nun direkt ans Gästezimmer anschloss.

Donnerstag, 22. März 2007

Test

Schrei mich an.
Wirf Teller an die Wand
Knall die Türen zu, zertrümmre sie.
Beschimpf mich.

Oder:
Stähl Deine Muskeln.
Aber nicht Deinen Verstand.
Betrink Dich, zumindest jeden zweiten Tag.
Lach über mich.

Oder:
Verachte, was ich leiste.
Mach herunter, was ich erschaffe.
Sag mir, wie lächerlich ich bin.
Verspotte mich.

Oder
Ruf mich nicht an.
Antworte nicht auf meine Nachrichten.
Halte Dich nicht an Vereinbarungen.
Ignorier mich.

Oder:
Schieb meine Person einfach weg.
Zeig mir, dass Du mich nicht willst.
Weder körperlich noch geistig.
Lehne meine Gefühle ab.

Was?
Du kannst das alles nicht?
Nichts von alle dem?
Gut….

Mittwoch, 21. März 2007

Monolog 1

ICH: Was hast Du da, Bradbury?
Ich: Eine Frosch.
ICH: Einen lebenden oder einen toten?
Ich: Er lebt!
ICH: Noch…
Ich: Die Zeiten sind vorbei.
ICH: Stimmt, das Sezierpraktikum ist eine Weile her, aber das habe ich nicht gemeint.
Ich: Sondern?
ICH: Du bist Meisterin darin, mit Fröschen so umzugehen, wie man das normalerweise nicht tut.
Ich: Stimmt doch gar nicht!
ICH: Nun ja, korrekt gesagt, gehst Du mit Prinzen nicht so um, wie man das hinlänglich macht.
Ich: Und wie meinst Du das?
ICH: Bradbury, Dir wurde von Deinen Freundinnen schon einmal der Titel „Böse Fee“ verliehen, vergessen?
Ich: *flüstert* zum Nicht-Vergessen habe ich ja zum Glück Dich.*laut* Neeeein…. Aber irgendwie ist das .. ungerecht.
ICH: Wieso?
Ich: Ich mag Frösche!
ICH: Ja, aber keine Prinzen, schon gar keine Märchenprinzen!
Ich: Nein, die mag ich nicht.
ICH: Eben, all diese gutaussehenden, Dich anschmachtenden, Dir Ständchen bringenden Prinzen…
Ich: … verwandle ich nur all zu gerne in Frösche.
ICH: Und welche Männer magst Du daher lieber?
Ich: Die Schweinehirte-Typen…
ICH: Du weißt aber schon, wie der mit der Prinzessin umgegangen ist?
Ich: Sicher, aber ich bin ja keine Prinzessin, sondern eben die Böse Fee, somit ist mir das reichlich egal.
ICH: Bradbury, Du bist kindisch!
Ich: Und jetzt küsse ich diesen Frosch!

Montag, 19. März 2007

That what you fear the most will meet you half way..









SPIRALE

Die Spirale
dreht sich nicht nach unten,
sie dreht sich nach oben.

Windung für Windung,
wie der Wind im Strudel
eines Tornados

Und mit jeder Windung
wird es leichter
und der Boden wird ferner.

Am Anfang war da noch
Vieles am Boden verankert.
Viel zu viel.

Werte, Eigentum, Besitz.
Materielles. Schmuck.
Erinnerungsstücke.

Die habe ich lange schon
Zurückgelassen.
Danach kamen die Werke.

Was ich geschaffen hatte,
was ich geschrieben habe.
Doch auch das kann man loslassen.

Es wird nicht mehr so wichtig.
Denn es ist Vergangenheit.
Es ist etwas Erschaffenes.

Somit nichts mehr zu schaffendes
Teil dessen, was passier ist.
Nicht mehr Teil der Zukunft.

Dann sind es die Beziehungen.
Die gewesenen, die vorhandenen.
Die zukünftig möglichen.

Die vergangenen Bindungen
waren schon lange hinter mir.
Ich hatte schon mit ihnen abgeschlossen.

Die Vorhandenen, sie zu lösen
war sicher nicht einfach, mein Herz
hing bei ihnen, aber es ging.

Die Zukünftigen: ich habe es geschafft
aufzuhören, mir etwas zu wünschen.
Mich nach jemandem zu sehnen.

Somit hat auch das an Bedeutung verloren.
Und ich steige weiter auf.
Nichts hält mich mehr wirklich.

Sie ist wunderbar, diese Freiheit.
Nichts ist mehr von Bedeutung.
Gleichgültigkeit und Unwichtigkeit.

Nichts ist mehr da,
was man verlieren kann.
Was einen hinunter zieht.

Und ich steige weiter auf.
Mit dem Kreisen des Windes,
den ich gerufen habe.

Weit hinauf.
Immer höher.
Nach oben.

Mittwoch, 14. März 2007

KONFEKT

Als Thomas die Türe öffnete, kam Mick (so wollte Michael seit kurzem genannt werden) mit einer Konfektschachtel unter dem Arm herein.
Thomas fragte erst gar nicht, warum Mick läutete und nicht aufsperrte, da er doch einen eigenen Schlüssel hatte.
Aber er fragte nach der Schachtel.
Mick zuckte mit den Schultern. „Was für Zeichnen“, meinte er. „Mama will nicht, dass ich es bei ihr lasse.“ Fügte er noch hinzu.
Das machte Thomas jetzt natürlich neugierig. Etwas, was seine Ex-Frau nicht wollte, und das sein Sohn nun zu ihm, dem Vater mitnehmen mußte… Er grinste.
„Und was?“ fragte er („.. ist das, was Deine Mutter nicht bei sich haben will?“)
Mick schaute seinen Vater an, als könne er nicht verstehen, wie man ernsthaft so etwas fragen würde. „Na was zum Zeichnen!“ sagte er daher etwas rotziger.
Dann ließ er die Schultertasche mit den Schulbüchern und die Sporttasche auf den Boden knallen, schob sich an Ort und Stelle aus den Sneaker und verzog sich mit „Ich geh mal an den PC.“ in sein Zimmer und ließ seinen Vater allein im Flur.
Die Konfektschachtel hatte er neben das Telefon auf die Kommode gestellt.

Nicht das Thomas ein anderes Verhalten von seinem Sohn gewohnt war, zumindest nicht seit den letzten eineinhalb Jahren, und davor hatte er Mick nicht wirklich oft gesehen. Meistens am Wochenende, aber da war ja Agnes dabei gewesen, so daß das nicht so wirklich zählte.

Irgendwann vor etwa zwei Jahren hatte er eine Zeit lang auf eine Art Teilzeit-Vater-Sohn-WG gehofft, in der Mick und er ganz auf Kumpel, auf Freunde, die 26 Jahre nicht wirklich trennten, lebten, über Tennis und Golf redeten und später dann über Tennis und Golf und Frauen und irgendwann vielleicht auch über Tennis und Golf und Aktienindizes und Frauen.
Aber irgendwas schien in der Planung schief gegangen zu sein. Möglicherweise, dass sein 15jähriger Sohn für Tennis und Golf noch nicht so wirklich reif war….

Thomas seufzte. Nicht, dass er etwas für den Abend mit Mick geplant hätte, außer vielleicht eine Pizza oder was vom Chinesen zu bestellen, aber irgendwie war er plötzlich demotiviert.
Er fragte sich, wie andere Väter ihre Besuchstage mit ihren Söhnen verbrachten. Aber das würde er wohl nie erfahren. So viele Fehler Frauen hatten, aber für sie war es kein Problem, von der Gruppendiskussion über die neuen Marktstrategie nahtlos auf eine Austausch über die Schulprobleme ihrer Teenagerkinder über zu gehen.
Das war mit seinen männlichen Kollegen nicht möglich. „Hey, Zehetner, sagen Sie mal, wie verbringen Sie so die Abende, wenn ihrer Jungs bei Ihnen sind. Und wie geht es Ihnen damit emotional?“ Nein, unmöglich…

Dann sah er die Konfektschachtel. Thomas grinste. Jetzt waren sie schon seit fast zwei Jahren getrennt und im Grunde in Frieden… aber es freute Thomas trotz alle dem, dass es etwas gab, was Agnes Mick verbot und mit dem er dann zu seinem Vater kam.
Er starrte die Schachtel an. Sie war vielleicht so groß wie ein A4-Papierplatt und gerade acht Zentimeter hoch. Und so, wie Mick sie unter dem Arm gehalten hatte, konnte sie nicht all zu schwer sein.

„Was zum Zeichnen“ … ja, aber WAS zum Zeichnen?
Thomas hatte Agnes schwerstens gerügt, als sie mal die SMS gelesen hatte, die in Micks Handy gespeichert waren, das sie versehentlich – ganz versehentlich – mit dem ihren verwechselt hatte. „Du negierst die Intimsphäre unseres Sohnes“, hatte er sich ausgedrückt. „Blödsinn, ich bin seine Mutter und sollte zu seiner eigenen Sicherheit wissen, mit wem und wie er so Umgang hat.“
Nein, er, Thomas, war da ganz anderes gelagert. ER wahrte die Intimsphäre seines Sohnes, egal ob sie aus dem Inhalt eines Handys oder dem einer Konfektschachtel bestand. „Nein, ich nicht“ , sagte er halblaut und straffte die Schultern, und gleich darauf war es ihm peinlich, weil es Mick in seinem Zimmer vielleicht gehört haben könnte. Thomas verschob die Konfektschachtel gedanklich ins Archiv und ging ins Wohnzimmer, um ein wenig im Internet zu surfen und um endlich das Mail an die eine 35jährige („Gott, hatte die riesige…“) fertig zu schreiben, der er im Grunde nur sagen wollte, dass die Nacht zwar toll war, er sich aber nach dem Ende seiner Ehe noch nicht reif für eine neue Beziehung fühle.

Gegen 20 Uhr bestellte er eine Pizza, deren Lieferung Mick veranlaßte, Mortal Combat Teil 21 oder Die Siedler von Catan, 16.Version zu verlassen und sich ins Wohnzimmer zu begeben. Im Fernsehen lief der vorletzte James Bond, von dem Thomas meinte, dass das ein geeigneter Film für einen Vater-Sohn-Männer-Abend sei.
Mick zeigte seine Meinung zu dem Film nicht deutlich, aber als um 20 Uhr 45 ein SMS für ihn kam, tat es ihm zumindest nicht sichtbar leid, dass er den Fernsehabend mit seinem Vater für ein Treffen mit einem aus seiner Clique abbrechen mußte. (Wobei Thomas nicht ganz heraushören konnte, ob der jemand unter Umständen weiblich war… denn dann hätte er endlich seinem Sohn die „wie mit Frauen umgehen sollte“- Tips geben können, die er schon seit Jahren für diesen Anlaß geistig gespeichert hatte.) Mick pappte etwas Gel in die Haare schlüpfte in die Sneakers, die Thomas nicht zur Seite geräumt hatte. (Agnes hatte das immer getan –aber sie verzog den Jungen von Anfang an.) „Um 23 Uhr bist Du wieder da! „rief ihm Thomas hinter her, dann viel die Tür ins Schloß.
„Der Junge ist einfach ein Teenager. Ich als liberaler Vater werde ihm sicher nicht das Fortgehen verbieten!“ erklärte er den Resten der Pfefferonipizza, die schon etwas ausgekühlt waren.
Der vorletzte James Bond war nicht wirklich spannend, aber Thomas sah sich verpflichtet bis zum obligatorischen Kuß am Ende durchzuhalten, damit der Männer-Abend zumindest pro forma einen gültigen Verlauf nahm. Last man standing…. Dann holte er sich ein Bier und überlegte, ob er jetzt in der passenden Stimmung war, das Mail an die 35jährige mit der göttlichen… zu schreiben.
Aber davor sollte er sicherheitshalber aufs Klo gehen, sonst konnte er sich am Ende nicht konzentrieren.
Im Flur, neben der Klotüre, stand die Kommode.
Auf der Kommode lag die Konfektschachtel.
Erst jetzt fiel Thomas auf, dass er die Bierflasche noch in der Hand hielt, die er sicher nicht aufs WC mitnehmen würde, und stellte sie neben die Konfektschachtel. Dafür mußte er diese etwas zur Seite schieben. Sie war tatsächlich leicht.
Aber das konnte ihm als liberalen Vater ja egal sein, er vertraute ja seinem Sohn. Somit konnte er reinen Gewissens sich erleichtern, damit er endlich das Mail schreiben konnte, wofür er seit fünf Tagen keine Zeit gefunden hatte, was die 35jährige mit drei Nachfragen ob des Status quo quittiert hatte, was die Qualität ihrer.. etwas trübte.
Entschlossen zu tun, was ein Mann tun mußte, verließ Thomas das WC (Die Klobrille beließ er seit fast zwei Jahren oben. Aus Protest. Gegen Agnes. Obwohl diese seine Wohnung noch nie betreten hatte. Und obwohl es mitunter unangenehm war, sich in den kühleren Winternächten auf den kalten Keramikrand der Klomuschel zu setzen.)
Er setzte sich vor seinen PC, klickte im Ordner ein Mail und dann „Antworten“ an und legte die Finger auf die Tastatur und starrte die blauweiße Bildschirmanzeige an. Er hatte keine Ahnung, was er schreiben sollte. „Liebe…“ tippte er.. und löschte es dann sofort wieder. „Liebe..“ ist ganz falsch, dachte er. „Das bekommen Frauen sofort in die falsche Kehle.“
„Hallo…“ Nein.. auch nicht so gut, das klang zu .. zu freundschaftlich, und das wollte er nun doch auch nicht. „Wir können ja Freunde sein,“ lief darauf hinaus, dass sich die Frauen dann noch Hoffnungen machten. Also nur der Vorname… war der nun Marion oder Miriam?
Thomas verzog den Mund, der schon ganz trocken vor Anstrengung war. Aber das Bier.. stand auf der Kommode am Flur. Also wieder aufstehen und raus, alles nur wegen dieses Mails an diese 35jährige Marion/Miriam….
Er ging zur Kommode, nahm die Bierflasche etwas zu schwungvoll und schubste damit die Konfektschachtel zu Boden. „Mist,“ dachte er und hob sie auf - sie war wirklich relativ leicht – und legte sie auf die Kommode zurück. Mit dem Bier in der Hand setzte sich Thomas wieder vor den PC. Er nahm einen kräftigen Schluck. Dann tippte er „Miriam“ und „ , „ (Wenn sie doch Marion hieß, war es egal, sie hatten ja nicht wirklich viel miteinander geredet….) Er nahm noch einen Schluck, wollte schon weiterschreiben, stoppte aber dann.
Was wenn in der Schachtel etwas Zerbrechliches drinnen war, das nun, durch den Sturz beschädigt worden ist?
Thomas überlegte. Wenn dem so war, wie sollte er es dann seinem Sohn erklären? Mick würde doch glauben, dass Thomas nachgesehen hatte und es dabei beschädigt hatte.
Er wurde unruhig, trank noch mal vom Bier und dachte nach.
Nein, es ging nicht anders, er mußte nachsehen. Wenn das Ding in der Schachtel beschädigt war, dann konnte er es vielleicht reparieren. Wenn es nicht mehr reparierbar war, dann würde er einfach abstreiten, die Schachtel je auch nur irgendwie berührt zu haben.

Zwei Sekunden später stand Thomas vor der Kommode und stellte das Bier, das er zur Verstärkung mitgebracht hatte, neben die Schachtel.
Dann nahm er sie an der Schmalseite in die Hand. Und betrachtete sie eingehend. Sie stammte von einem exquisiten Schweizer Erzeuger und war sicher nicht billig gewesen. Mick mußte die Schachtel von seiner Mutter haben – leer natürlich – aber woher zum Teufel hatte Agnes sie? Oder vielmehr noch: von wem? Wer schenkte Agnes derart teures Konfekt? Micks früherer Mathematikprofessor, mit dem sich Agnes einige Zeit lang nach der Scheidung getröstet hatte, konnte sich so was wohl nicht leisten. Hatte Agnes einen neuen Verehrer? Thomas beschloß Mick, so von Vater zu Sohn, mal etwas darüber zu befragen, ob er wußte wie seine Mutter die Abende in letzter Zeit verbrachte, ob ihm etwas verdächtig vorgekommen war usw.
Aber gut, darum ging es derzeit nicht. Sondern nur darum, Schaden zu vermeiden, und den hatte womöglich der Inhalt genommen, unabhängig von der Verpackung.
Sehr vorsichtig trug Thomas die Schachtel (und auch das Bier) ins Wohnzimmer, schob die Pizzaschachtel beiseite, so daß ausreichend Platz am Couchtisch frei wurde und plazierte beides auf der Resopalplatte des Tisches. Dann hielt er inne und starrte den Deckel der Kartons an, als ob er ihn durch bloße Willenskraft zum Öffnen bringen konnte.
Schließlich beschloß er die Sache in Angriff zu nehmen, er schob den Deckel, der relativ dicht am Boden saß, an, bewegte dabei die Schachtel immer wieder hin und her, bis er ihn ganz angehoben hatte.
Ein Schwall Gestank kam ihm entgegen, den Geruch der Pfefferonipizza gerade überdeckend. Angewidert schaute er in die Schachtel, die mit Klarsichtfolie ausgebreitet war, einen toten Frosch in unbekanntem Stadium der Verwesung.

Thomas war entsetzt – erschrocken oder angeekelt zu sein stand einem Mann seiner Meinung nach nicht zu. Also war er entsetzt.
Aber eines beruhigte ihn, der Frosch war schon länger tot und nicht erst zuvor durch das Herunterfallen der Schachtel auf den Boden gestorben, denn seine Gedärme, die aus dem weißlich-aufgequollenen Bauch heraushingen – der Frosch lag am Rücken – waren schon etwas eingetrocknet und wiesen nicht den feuchten Glanz auf, den frische Eingeweide (zumindest nach Thomas Harris) hatten. Der gesamte Frosch hatte eine etwas farblose Erscheinung. Thomas versuchte sich zu erinnern, ob man zu dem Vergammeln eines der Luft ausgesetzten toten Organismus nun richtigerweise tatsächlich Verwesen sagte – auch wenn keine Fliegen herumschwirrten - oder ob es sich um Verfaulen oder Verschimmeln handelte.
Nun, er erinnerte sich nicht mehr – früher hätte er Agnes gefragt, die war die naturwissenschaftlich Gebildete in ihrer Ehe gewesen. Aber früher war vorbei, Agnes ..
Agnes! Wie konnte sie ihrem Sohn erlauben, einen toten Frosch mit nach Hause zu bringen!
Gut, sie hatte es ihm nicht erlaubt. Daher war Mick ja mit der Konfektschachtel zu ihm, seinem Vater gekommen – weil „Mama nicht will, dass ich es bei ihr lasse.“

Thomas Gedanken schlitterten hin und her.
Er saß vor der offenen Schachtel, deren ihr entströmender Geruch mittlerweile mit dem der Reste der Pfefferonipizza und dem des Bieres ein interessantes Konglomerat gebildet hatte und starrte den Frosch an, als ob diese jeden Augenblick wieder zu zucken beginnen konnte.

Warum, um alles in der Welt, hatte sein Sohn einen toten, aufgeplatzten Frosch in einer Schachtel bei sich?
Was hatte ihn dazu veranlaßt? Hatte er am Ende den Frosch getötet und trug ihn nun als Mahnmal für seine Schuld mit sich herum? Oder als Trophäe?
Thomas wurde unruhig.
Hier lag ein toter Frosch in einer Schachtel und Mick – Michael! – sein Sohn hatte ihn mitgebracht. Michael, dessen Nabelschnur er durchtrennt hatte, schleppte tote Tiere mit sich herum! Was kam als nächstes?

Thomas überlegte fieberhaft. Hier war etwas im Argen – mit Michael. Und er hatte es nicht erkannt. Er hatte nicht mitbekommen, was in seinem Sohn vor sich ging, und mit einem Mal begriff er das Verhalten seines Sohnes als Gesamtes. Die Pubertät, die ihn gerade aufs Schwerste heimsuchte, seine Zurückgezogenheit, sein Desinteresse an allem, was ihm Thomas anbot. Hier schrie die gequälte Seele eines jungen Menschen um Hilfe!
Und sie tat dies stumm in Form eines verwesenden, stinkenden Frosches. Der Frosch war ein Zeichen, Michaels Zeichen.
Und er hatte es zunächst seiner Mutter dargebracht. Doch diese wollte von der Not ihres Sohnes nichts wissen, so daß er sich nun an ihn, seinen Vater, seinen Erzeuger wandte.
Guter Junge! Er hat instinktiv gewußt, wer ihn verstehen würde!
Und Agnes: sie hatte als Mutter versagt. Thomas war enttäuscht und andererseits sah er sich in den Vorwürfen – nun zurecht!- , die er ihr in der Eskalationsphase vor der einvernehmlichen Scheidung gemach hatte - bestätigt. Sie hatte den Jungen nicht richtig erzogen. Wäre Thomas mehr zuhause gewesen, hätte er ihr schon zeigen können, wie man mit einem Kind wirklich umgeht. Aber nun sahen sie das Ergebnis!
Und überhaupt: es war Agnes gewesen, die die Scheidung wollte. Nachdem die auf seine Affäre mit der Accountmanagerin draufgekommen war und aus Rache dem Studenten von unten Mrs Robinson vorgespielt hatte, wollte sie nicht die Vernunft gelten lassen und hatte auf die Trennung bestanden. Nun sah sie, was sie angerichtet hatte! Michael, sein Ein und Alles, gab sich mit toten Fröschen ab!
Er rief Agnes an.
Nach dem elften Läuten hob sie ab. „Was ist denn los? Ich habe schon geschlafen!“ sagte sie mit deutlich belegter Stimme. Thomas stutze einen Augenblick. Warum war sie zuhause und nicht unterwegs, tanzen, was trinken, mit fremden Männern … ? Oder war sie am Ende nicht alleine zuhause? „Agnes, wir müssen reden!“ sagte Thomas sehr bestimmt in seiner Abteilungsleiterstimmlage. „Thomas, es ist 22 Uhr“, kam es von Agnes schon etwas wacher. „Ich muß morgen um 3 Uhr früh zum Flughafen. Ich muß ausgeschlafen sein, verdammt noch mal, kann das nicht warten?“
„Nein, kann es nicht! Es geht um Mick – äh – Michael“
„Hat er die Englisch Arbeit verhaut?“
Englisch-Arbeit? Welche Englisch-Arbeit? „Nein, er hat einen toten Frosch.“
Schweigen – war sie schockiert? Hatte sie endlich begriffen?
„Ach so, der Frosch. Und deswegen rufst Du mich an?“
Thomas war perplex. Agnes´ Desinteresse an Michaels schlimmer Gemütsverfassung schien ihm unfaßbar. „Agnes, er hat einen toten Frosch in einer Schachtel. Er will uns damit etwas sagen!“
„Mit einem Frosch?“
Diese Frau konnte ihn noch immer zur Weißglut treiben mit ihrer Ignoranz. „Heute ist es ein toter Frosch und was kommt als nächstes?“
„Eine tote Katze?“ fragte Agnes.
„Ich wußte, warum ich mich scheiden lassen wollte!“ kam es Thomas aus.
„Moment, ich wollte mich scheiden lassen“, wurde Agnes plötzlich doch auch etwas heftiger. Offenbar begann sie zu verstehen, was im Busch war.
„Und das hast Du nun von Deinem Bestreben: Unser Sohn leidet still vor sich hin, unter dem Druck unfähig sich zu äußern und zeigt uns dies…“
„.. in Form eines toten Frosches?“ vollendete Agnes den Satz.
„Genau!“ Oh so viel der Worte, bis sie endlich verstanden hatte.
„Thomas, Du spinnst. Und ich geh jetzt schlafen.“ Dann ein Klicken und der Summton des abgebrochenen Gespräches.
Thomas war fix und fertig. Agnes hatte als Mutter versagt.
Nein, er durfte ihr das nicht alleine zum Vorwurf machen. So aufrecht mußte er jetzt sein. Auch er hatte als Vater versagt. Aber nun war der Frosch an der richtigen Stelle gelandet und er würde sich der Sache, nein – seines Sohnes annehmen, wie es ein Vater zu tun hat.

Aber zu allererst mußte der Frosch am weiteren Verwesen gehindert werden, denn schließlich wurde er noch gebraucht, als Zeichen, als Mahnmal.
Thomas trug die Schachtel zum Kühlschrank. Doch sie war zu groß, um einen Platz zwischen den Bierflaschen und Coladosen, den eingelagerten, aber trotz ihres überschrittenen Ablaufdatums sicher noch genießbaren Dauerwurststangen und Joghurtbechern und dem Rest des Gulasch von vorigem Dienstag zu finden.
Der Frosch mußte ohne Schachtel in den Kühlschrank.
Thomas holte die Tupperwareschachtel hervor, in der ihm die alleinstehende Nachbarin bei seinem Einzug einen Begrüßungskuchen vorbeigebracht hatte, und die er nie zurückgegeben hatte, weil er die darauffolgenden fünf Monate nach seinem Einzug vermieden hatte, ihr zu begegnen, bis schließlich der Wachmann der Bankfiliale von Gegenüber bei ihr einzog.
Vorsichtig ließ er den Frosch von der Konfektschachtel in die Tupperwarebox hinüber gleiten. Der Frosch platschte trotzdem auf den Plastikboden der Box und sein Maul öffnete sich und ließ eine leuchtend – fast obszöne - rosa Zunge von erstaunlicher Dicke herausfallen, die im Vergleich zu den angetrockneten, nur leicht verrutschten Eingeweiden noch relativ frisch wirkte. Jetzt sah der Frosch wirklich absolut erledigt aus.
Thomas legte den Deckel auf die Box und drückte vorschriftsgemäß („Der luftdichte Verschluss hält den Inhalt länger frisch!“) diesen zu. Dann stellte er die Box in den Kühlschrank. Er fühlte sich erleichtert.
So regelte ein Mann solche Angelegenheiten, wenn er das Leben seines Sohnes beschützen wollte.
Als nächstes würde er mit Mick – Michael! – wie konnte Agnes nur so eine Verballhornung dieses Namens zulassen?. Jeder Schritt brachte den Abgrund näher. – behutsam aber bestimmt, ihm den dringend notwendigen Halt gebend, darauf ansprechen, wenn dieser heimkam.
Und inzwischen mußte er sein Bier fertig trinken.
Im Vorbeigehen machte er halt an seinem PC, weil der Eingang eines neuen Mails angezeigt wurde. Von Maria. (Maria! – nicht Marion, nicht Miriam!) Maria hatte ihm geschrieben, dass sie gestern einen andern Mann kennengelernt hätte und sich in ihn verliebt hätte. Dieses verlogene Miststück! Ihm macht sie etwas von Zuneigung und Gefühle vor und kaum ist er für ein paar Tage in beruflichen Stress, wendet sie sich einem anderen zu. Weiber!
Und wenn er schon vor dem PC saß, dann konnte er doch gleich auch sein Lieblingsforum besuchen, oder neue Freedownload-Videos runterladen…

Thomas registrierte Micks Heimkommen zwei Stunden später erst, als dieser neben ihm stand.
„Ich hol mir noch was zu trinken“, sagte Mick.
„Ja, ja, mach das, Coke ist im Kühlschrank“, antwortete Thomas, nur mal kurz vom Bildschirm aufschauend.
„Dad?“ Mick sagte Dad, seit dem er sich selbst Mick nannte.
„Ja?“
„Was hat Du da im Kühlschrank?“
Kühlschrank? Bier, abgelaufenes Joghurt, abgelaufene Dauerwurst… die Box mit dem Frosch!
Thomas sprang auf, ging zu Mick, der mit einer Coladose in der Hand in der Küche stand, legte ihm die Hände auf die Schultern und schob ihn zu der Couch ins Wohnzimmer. Mick stellte die Dose auf den Couchtisch neben die Schachtel mit den Resten der Pfefferonipizza und starrte seinen Vater an, als ob diesem gerade Fühler gewachsen wären.
„Wir müssen reden, Sohn!“ sagte Thomas, dem diese Worte ob ihres Gewichts immer mehr gefielen.
„Wegen dem in der Plastikbox?“ fragte Mick zweifelnd?
„Ja. Auch.“ Thomas zögerte –waren heute alle schwer von Begriff?
„Michael,“ er seufzte und machte eine rhetorische Pause. „Mein Sohn, ich möchte, dass Du weißt, dass ich immer für Dich da bin. Egal, was sein wird. Du sollst mit jedem Kummer, der Dich bedrückt zu mir kommen können. Ich werde immer ein offenes Ohr für Dich haben und Dich nie wegschicken. Hier bist Du willkommen. Besonders in diesen für Dich schweren Zeiten!“ Thomas war gerührt.
„Dad, wieso hast Du die Schachtel aufgemacht?“
Himmel, es hatte Mick wirklich hart im Griff! „Weil ich mir sorgen um Dich gemacht habe! Es war meine väterliche Pflicht nach all dem, was Deine Mutter und ich Dir zugemutet haben!“
„Und deswegen ist er jetzt in der Plastikbox im Kühlschrank?“
Ja, mein Sohn!“ weil Du mit mir reden kannst – über alles. Und Du dazu nicht erst so einen abscheulichen Frosch mitbringen mußt.“
„Sorry, er dürfte schon zu stinken begonnen haben. Wahrscheinlich war es eh eine blöde Idee…“
„Nein, mein Sohn, es war eine gute Idee, eine wichtige Idee! Denn Du bist wichtig. Du bist mir das wichtigste auf der Welt. Und Deiner Mutter wahrscheinlich auch….!“
„Nö, es ist eine doofe Idee. Wie soll ich für das Renaissance-Projekt eine Naturstudie zeichnen, wenn das Objekt schon halb zerfallen ist? Ich hätte doch eine Geranie nehmen sollen, wie Mama vorgeschlagen hat. Und nichts, was ich auf der Strasse gefunden habe….“
Thomas starrte Mick an.
„Und außerdem, Dad, es ist eine Kröte!“

Sonntag, 11. März 2007

ARACHNIDA

Spinnen sind keine Insekten.
Spinnen für Insekten zu halten – diesen Fehler begehen viele Menschen.
Spinnen sind in erster Linie mit den Pfeilschwanzkrebsen und den Skorpionen verwandt. Erst die weitläufigere Verwandtschaft in der Klasse der Gliederfüßer verbindet die Spinnen mit den Insekten.
Dabei sind Spinne sehr leicht von den Insekten zu unterscheiden: Insekten haben maximal sechs Beine. Spinnen aber haben acht Beine.
Wir haben acht Beine.
Ich habe acht Beine.

Ich lebe seit dem Ende des letzten Sommers hier.
Und im Grunde ist mein Wohnort von der Qualität, wie ich es mag. Ich habe meine Bleibe direkt unter einem der dunklen Panelen gefunden, die die Decke des hohen Raumes durchkreuzen. Sie sind so alt wie das Haus und das Haus ist ein Fachwerkbau.
Warum ich das weiß, obwohl ich eine Spinne bin?
Nun, ich weiß es eben. Weil ich eine Spinne bin. Eine Tegenaria atrica, eine Winkelspinne.

Das alte Holz zieht viele Insekten an. Jetzt im Frühsommer fliegen sie durch die Oberlichte des Fensters, besonders am Abend, wenn im Zimmer Licht brennt und wegen der lauen Luft draußen niemand daran denkt, die Fenster zu schließen.
Daher mag ich den Frühsommer – und dabei ist es mein erster. Nicht nur hier in diesem Haus, in das mich der Wind letzten Herbst durch eben dieses Fenster hereingeweht hat, als ich noch eine winzige, gerade geschlüpfte Jungspinne war, die an ihrem Faden durch die Luft schwebte, wie ein Paraglider. (Nein, bitte fragen Sie jetzt nicht, warum ich weiß, was ein Paraglider ist.) Die Menschen nennen diese Tage im Herbst, wenn wir Frischlinge durch die Luft segeln übrigens Altweibersommer. Da unsere Spinnfäden an die langen weißen Haare alter Frauen erinnern.

Ich habe noch keine alte Menschenfrau mit langen weißen Haaren gesehen.
Aber ich habe eine alte Menschenfrau gesehen, die orangerote kurze Haare, die farblich an die Körperfärbung von Fruchtfliegen, Drosophila melanogaster erinnern, hat
Fruchtfliegen gehörten bisher zu meinen Hauptbeutetieren.
Wobei, erlauben Sie mir die Bemerkung: wir Spinnen sind Beutegreifer. Wie Leoparden, Fischotter, Karpfen und Maulwürfe. Raubtier ist ein etwas überalterter Ausdruck, denn schließlich rauben wir ja nichts.

Fruchtfliegen sind bis vor Kurzem eine meiner Hauptnahrungsquellen gewesen. Sie hielten sich bevorzugt auf dem Obst auf, das farblich ansprechend (Ja, wir können Farben sehen!) drapiert in der Glasschüssel auf der Anrichte schräg unter meinem Dachbalken lag. Immer wieder stiegen sie in Schwärmen zu mir auf und verfingen sich zu Hauf in meinen Netzfäden, worauf ich mich veranlaßt sah, mehrere von ihnen einzusammeln und in meinen Trichter zu befördern, wo ich sie dann zerbiß und verzehrte. (Nicht alle Spinnen bevorzugen Flüssignahrung.) Weiters erfreute ich mich immer wieder an den Gelsen und Stechmücken, die nun im Frühsommer Abends durch die Oberlichte dem Geruch der Menschen folgen. Oder ich delektierte mich an der einen oder anderen Florfliege oder einer Schnake.
(Letztere ist übrigens keine Spinne, auch wenn viele sie dafür halten, und ebenso wenig eine Stechmücke, und doch müssen sie des Irrglaubens der Menschen wegen, sie seien welche, oftmals ihr Leben lassen, noch bevor ich es ihnen nehmen kann. )

Warum ich in der Vergangenheitsform erzähle, wenn es um meine Nahrung geht?
Nun, weil es Vergangenheit ist.
Und das hat mit der älteren Menschenfrau mit den drosophilafarbenen Haaren zu tun.

Sie nistete sich hier in den Räumen unter dem Dach, unter meinem Dachbalken ein, als vor einigen Wochen Regen eine mehrtägige Abkühlung und mir einen Mangel an Insekten einbrachte. Seit dem lebt sie hier unter dem Dach, schläft unter dem Dach und redet unter dem Dach mit einer etwas lauten Stimme, die meine Netzfäden erzittern lässt, mit den anderen Menschen, die bisher kaum Anteil an dem nahmen, was sich über ihnen im Raum tat.
(Menschen interessieren sich in der Regel nur für die durchschnittlich 175 cm Raumhöhe, die sie einnehmen, wogegen ich mich für die zwei Meter darüber interessiere, aber die 175 cm darunter nie unbeobachtet lasse.) Offenbar redete sie zu laut mit den anderen Menschen, denn ich sah diese seit dem nicht wieder.
Eine der ersten Handlungen, die die Frau mit den Drosophilahaaren setzte, war, eine netzartige Kuppel über die Obstschüssel zu stülpen. (Wobei „Netz“ in diesem Zusammenhang eine Beleidigung für eine jede Vertreterin meiner Gattung ist.)
Die Fruchtfliegen, ihrer Lebensbasis beraubt, starben binnen Stunden des Hungers, weit außerhalb meines Jagdgebietes, was ich bedenklich fand.
Kurz danach wurde ein gazeartiges Gewebe außen vor den Fenstern aufgespannt, so daß das abendliche Eindringen meines zweiten Nahrungslieferanten verhindert wurde.

Und dann kamen die Leiter, und die Spraydose, und die alte Menschenfrau, die auf die Leiter stieg.

Wie gesagt, Spinnen sind keine Insekten.
Und trotzdem sterben Spinnen, wenn sie mit Insektenspray eingesprüht werden.
Bis dato habe ich nicht nachvollziehen können, ob dies Absicht ist oder nur eine dumme Nebenerscheinung. Aber es ändert nichts daran.

Ich sah wie die alte Frau auf die Leiter stieg und sich umsah. Dann sah ich, was sie sah.
Zwischen einem Kasten und der Ecke einer Wand hatte eine Kreuzspinne ein Radnetz gewoben, erst zwei Nächte zuvor, und darin auf Fliegen gelauert.
Die Frau auf der Leiter sprühte das Insektizid auf sie, circa zwei Minuten lang.
Zunächst passierte nichts.
Dann fiel die Spinne zu Boden.
Ich habe gute Augen, acht an der Zahl – einfach zu merken, es ist die gleiche Anzahl wie Beine – und sah alles.
Die Kreuzspinne hatte das Gift durch ihre Tracheen aufgenommen und durch das Blut wurde es in den Körper transportiert, in das Gehirn, in die Ganglien.
Spinnen fühlen Schmerz.
Diese Kreuzspinne fühlte ihn, während ihre Gliedmassen krampfartig zuckten, sich zum Körper bogen, die Kieferscheren zuckend schnappten.
Das dauerte ebenso lange wie die Frau brauchte, um von der Leiter herunter zu steigen, eine Zeitung von der Anrichte mit der Obstschüssel zu nehmen, dies zu falten, sich vor die sterbenden Kreuzspinne auf den Boden zu hocken, auszuholen und mit der Zeitung auf den Körper der Spinne zu schlagen.
Ich habe keine Ohren, aber ich nehme Schall durch die Borstenhaare auf meine Gliedmassen wahr. Daher wußte ich, dass es einklatschendes Geräusch ergab, als der Körper der Kreuzspinne zerdrückt wurde.
Dann hob die Frau die Zeitung und betrachtete die bräunlich-beige, körnige Masse, die auf dem Papier klebte.

Ich habe keine Gefühle. Aber ich fand nicht gut, was hier passiert war.
Der Vorgang wiederholte sich noch zwei Mal an zwei anderen Stellen des Zimmers.
Dann faltete die Frau die Leiter zusammen, lehnte sie in eine Ecke und verließ den Raum.
Ich wartete.
Und hatte Hunger.

In der Nacht danach hatte eine andere Radnetzspinne ihr Netz aufgespannt.
Sie starb am nächsten Morgen ebenso wie die anderen zuvor.

Ich wartete
Und hatte noch mehr Hunger.

Am nächsten Tag verendete eine Wespe, ein Weberknecht und drei Schmeißfliegen, die in das Zimmer geflogen kamen, während die alte Frau eine Decke am offenen Fenster ausschüttelte. Leider konnte ich keine der Kreaturen zuvor unter meinem Dachbalken begrüßen.

Ich wartete wieder.
Mein Hunger nahm zu.

Am vierten Tag starben die anderen beiden Winkelspinnen.
Nun war nur mehr ich übrig.

Am fünften Tag sah die alte Menschenfrau meinen Trichter.
Sie holte die Leiter, stellte sie auf, nahm die Dose und begab sich zu meinen Dachbalken hinauf.
Ich wartete.
Und beobachtete, wie sie das Gift in meinen Trichter sprühte. Dann sprang ich.
Ich bin schnell, wenn ich springe und ebenso schnell spult sich der Spinnfaden aus meiner Drüse am Hinterleib ab.

Ich landete direkt am Nacken unter den drosophilafarbenen Haaren der alten Menschfrau und biß sie.
Mein Biß ist nicht giftig. Aber man spürt ihn.
Sie spürte ihn.
Und riß die Arme nach hinten, mich zu erschlagen, doch ich war schon wieder oben am Balken, wo ich mich zuvor versteckt hatte.
Dort sah ich, wie sie das Gleichgewicht verlor.
Und taumelte.
Und von der Leiter fiel.

Sie schlug am Boden auf und da ich nicht in meinem Netz war, konnte ich nicht fühlen, ob es ein Geräusch machte, als sie aufschlug.

Es war schwül in den nächsten Tagen, doch der Gazestoff vor dem Fenster verhinderte, dass Insekten hereinkamen.
Doch ich mußte nicht hungern.
Sacrophagidae oder Fleischfliegen finden immer einen Weg, wenn sie zu verwesenden Körpern wollen. Und ab und zu verirrt sich eine von ihnen zu mir herauf.
Und ich fange sie in meinem Trichternetz und fresse sie.
Ich bin eine Spinne.

Freitag, 9. März 2007

VER-HALTEN

„Und was kommt als nächstes?“ fragte sie, als sie das Lokal verließen. Eigentlich war sie müde, eigentlich wollte sie nach hause. Eigentlich war der Typ nicht das, was – ja was eigentlich?
Sie hatte den ganzen Abend lang nachgedacht, was ihr an ihm nicht gefiel, es aber nicht wirklich zu benennen vermocht, was leisen, unterschwelligen Ärger in ihr entstehen ließ, natürlich über sich selbst, weil sie zumindest von sich selbst Klarheit erwartete.
Im Grunde wirkte er attraktiv, nicht so sehr optisch, aber darauf kam es ihr – mit Ausnahmen – nicht an. Er war etwas jünger als sie, seine Sprechweise war dialektfrei, sein Humor ausreichend schwarz durchzogen, sein Intellekt ansprechend. Und doch… Im Grunde hatte sie den ganzen Abend lang überlegt, wie sie das Gespräch verkürzen, das Date vorzeitig beenden konnte, aber sie war keine gute Lügnerin und da sie ja keinen greifbaren Grund benennen konnte, nicht im Stande, direkt zu sagen, dass sie eigentlich augenblicklich gehen wollte.
Diese Unfähigkeit trug dazu bei, dass sie sich noch mehr über sich ärgerte.
Sie lachte wenig an diesem Abend, aber da ihm der Vergleich fehlte, fiel es ihm nicht auf.
Ganz im Gegenteil – sie hatte den Eindruck, dass er durchaus Gefallen an ihr fand. Es war seine Art, sie anzusehen, es waren die kleinen Bemerkungen – anerkennend, auf das von ihr Gesagte eingehend –, wie oft er sie beim Vornamen nannte. Seine Art, den Körper zu straffen, die Hände auf der Tischfläche zwischen ihnen immer wieder „in ihre Hälfte wandern lassend. Sie kannte all die Verhaltensweisen, hatte sie immer wieder beobachtet, hie und da nur so zum Test bewußt und gewollt bei ihrem Gegenüber hervorgerufen. Es war so vorhersehbar. Doch diesmal hatte sie jede nonverbale „Antwort“ vermieden.
Und jetzt diese Frage von ihr. „Und was kommt als nächstes?“, als ob sie sich „etwas nächstes“ wünschen würde, denn im Grunde wollte sie nach Hause.

Er zuckte mit den Schultern und schaute in den grauen Nachthimmel, als ob er von dort eine Idee hernehmen könnte.
Und warum fragte sie ihn eigentlich? Um sich von seiner Entscheidung abhängig zu machen? Du Mann, ich Frau und daher folge ich Dir. Sein zuvorkommendes Verhalten im Lokal, als er für sie dem Kellner ihre Bestellung ansagte, die Weinauswahl übernahm, ihr schließlich in den Mantel half, hatte sie gestört, aber sie hatte es hingenommen. Doch als er ihr dann, als sie den Mantel schloß, ihre langen Haare aus dem Kragen des Mantels zog und auf ihre Schultern legte, war sie stocksteif geworden. Zu intim erschien ihr die Berührung. Hatte er es bemerkt?
Was nahm er sich heraus?

Er sah sie an, solange, dass sie begann, an dem Kragen ihres Mantels herumzuzupfen, weil sie seinem Blick nicht ausweichen wollte. Dann sagte er: „Nun, wir werden wohl nach Hause gehen. Wenn Du zur U-Bahn-Station mußt, können wir noch ein Stück gemeinsam gehen, mein Auto steht auch in der Gegend.“

Sie meinte sich verhört zu haben. Schlug er ihr wirklich vor, einfach nach Hause zu gehen? Getrennt selbstverständlich?
„Gut, gehen wir“, sagte sie und wandte sich – vielleicht eine Spur zu hastig – in die Richtung zur U-Bahn-Station. Er folgte ihr.
Ihr Ärger begann sich zu vergrößern. Hatte er ihr wirklich ernsthaft vorgeschlagen, den Abend einfach so zu beenden? Nach all dem, was er ihr nonverbal mitgeteilt hatte?
Sie gingen nebeneinander, schweigend.
Warum hatte er nicht vorgeschlagen, dass sie noch irgendwo etwas trinken gehen könnten. Oder vielleicht tanzen?
Ihre Schritte halten auf dem Kopfsteinpflaster.
Nicht, dass sie zugestimmt hätte. Sie wollte ja nach hause. Aber sie hätte sich doch einen solchen Vorschlag erwartet. War ihre Wirkung auf ihn nicht nachhaltig genug gewesen. Sollte sie sich getäuscht haben?
Sie war nun zornig, auf sich, auf ihn. Er bekam von all dem nichts mit.
Was hatte er sich erwartet? War er enttäuscht? Aber warum dann sein eindeutiges Verhalten?

Die Gasse war eng, und ausgerechnet hier kam ihnen eine Gruppe leicht angeheiterter Touristen entgegen. Sie wichen in eine Nische bei einem Hauseingang aus, warteten bis der Trupp vorbei war, einander nicht ansehend.
Warum sieht er mich nicht an? fragte sie sich. Vorher hat er das doch auch getan! Was hat sich geändert?
Als die grölenden Jugendlichen vorbei waren und er wieder auf die Gasse treten wollte, hielt sie ihn am Ärmel seines Mantels fest. Er schaute sie einen Moment lang überrascht an, dann zog sie ihn zurück in die Nische, drängte ihn, der nach hinten stolperte, zwischen sich und das Haustor und küßte ihn. Nein, eigentlich presste sie ihre Lippen auf die seinen, relativ hart, grob fast, denn es dauerte eine Ewigkeit von vielleicht 10 Sekunden, bis er reagierte. Aber nur, in dem sein angespannter Mund weich wurde. Doch noch immer war sie es, die ihn küßte, zornig, wütend auf sich, dass sie so was machte und wütend auf ihn, dass er .. dass er… einfach nicht reagierte?
Fast wartete sie, dass sie darauf, dass seine Arme sich heben würden und er sie von sich schob.
Und er ließ sie warten.
Dann öffnete er seine Lippen und seine Arme packten ihre Schultern und zogen sie an sich.

Sie mochte ihn noch immer nicht. Sie war noch immer zornig, gekränkt Und aus dieser eigenartigen Mischung heraus, gierig. Sie hörte nicht auf, ihn zu küssen. Denn wenn sie ihren Mund von dem seinen lösen würde, das wußte sie, würde sie nicht wissen, was sie sagen sollte, was sie weiter tun sollte. Weil sie nicht mal genau wußte, warum sie ihn zu küssen begonnen hatte.
Als wollte sie vermeiden, dass er aufhörte, zog sie seine Hand von ihrer Schulter unter ihren Mantel, legte sie auf ihre Taille und schob ihren Arm unter seine Jacke, sich an ihn pressend.
Erst als sie ihre Hand über seinen Rücken gleiten ließ, begann auch die seine zu wandern, zog sie näher zu seinem Körper. Der Druck erregte sie und machte sie noch wütender. Sie begriff nicht, warum sie tat, was sie tat. Und warum sie diejenige war, die damit hatte beginnen müssen. In ihrer Wut krallte ihre Fingernägel in seinen Rückenmuskeln, spannte ihren Köper in seinem fester werdenden Griff. „Lass mich gefälligst los!“ dache sie, und machte selbst das Gegenteil.

Minuten (?) später: ein Räuspern hinter ihrem Rücken, leise zuerst, dann etwas lauter. Er löste zuerst seiner Hände Griff an ihr, seine Umarmung ihrer Hüfte, dann die Lippen von einander.
Sie mußte nicht hinsehen. Hinter ihr stand ein Mann, der offenbar in das Haus wollte, dessen Eingang sie gerade blockierten.

Plötzlich vollkommen erschlafft und jenseits jeder Wut, ließ sie die Arme sinken und trat einen Schritt zur Seite, weg von ihm.

Sie vermied es, ihn anzusehen und trat aus dem Hauseingang vor auf den Gehsteig. Er folgte ihr. Kühl war es jetzt, sie schloß ihren Mantel während des Gehens.

Keine zwei Minuten später waren sie an der U-Bahnstation.
Sie küßten einander auf die Wange. „Wir telefonieren,“ sagte sie.
„Ja, machen wir“, antwortete er. Sie wußten beide, dass das nicht passieren würde.
Sie sah sich nicht noch mal um, als sie die Station betrat. Sie hätte auch nur seinen Rücken gesehen, während er zu seinem parkenden Auto ging.
Als sie die Rolltreppe hinunter fuhr, lachte sie.


(NICHT nach einer wahren Begebenheit.)