Freitag, 9. März 2007

VER-HALTEN

„Und was kommt als nächstes?“ fragte sie, als sie das Lokal verließen. Eigentlich war sie müde, eigentlich wollte sie nach hause. Eigentlich war der Typ nicht das, was – ja was eigentlich?
Sie hatte den ganzen Abend lang nachgedacht, was ihr an ihm nicht gefiel, es aber nicht wirklich zu benennen vermocht, was leisen, unterschwelligen Ärger in ihr entstehen ließ, natürlich über sich selbst, weil sie zumindest von sich selbst Klarheit erwartete.
Im Grunde wirkte er attraktiv, nicht so sehr optisch, aber darauf kam es ihr – mit Ausnahmen – nicht an. Er war etwas jünger als sie, seine Sprechweise war dialektfrei, sein Humor ausreichend schwarz durchzogen, sein Intellekt ansprechend. Und doch… Im Grunde hatte sie den ganzen Abend lang überlegt, wie sie das Gespräch verkürzen, das Date vorzeitig beenden konnte, aber sie war keine gute Lügnerin und da sie ja keinen greifbaren Grund benennen konnte, nicht im Stande, direkt zu sagen, dass sie eigentlich augenblicklich gehen wollte.
Diese Unfähigkeit trug dazu bei, dass sie sich noch mehr über sich ärgerte.
Sie lachte wenig an diesem Abend, aber da ihm der Vergleich fehlte, fiel es ihm nicht auf.
Ganz im Gegenteil – sie hatte den Eindruck, dass er durchaus Gefallen an ihr fand. Es war seine Art, sie anzusehen, es waren die kleinen Bemerkungen – anerkennend, auf das von ihr Gesagte eingehend –, wie oft er sie beim Vornamen nannte. Seine Art, den Körper zu straffen, die Hände auf der Tischfläche zwischen ihnen immer wieder „in ihre Hälfte wandern lassend. Sie kannte all die Verhaltensweisen, hatte sie immer wieder beobachtet, hie und da nur so zum Test bewußt und gewollt bei ihrem Gegenüber hervorgerufen. Es war so vorhersehbar. Doch diesmal hatte sie jede nonverbale „Antwort“ vermieden.
Und jetzt diese Frage von ihr. „Und was kommt als nächstes?“, als ob sie sich „etwas nächstes“ wünschen würde, denn im Grunde wollte sie nach Hause.

Er zuckte mit den Schultern und schaute in den grauen Nachthimmel, als ob er von dort eine Idee hernehmen könnte.
Und warum fragte sie ihn eigentlich? Um sich von seiner Entscheidung abhängig zu machen? Du Mann, ich Frau und daher folge ich Dir. Sein zuvorkommendes Verhalten im Lokal, als er für sie dem Kellner ihre Bestellung ansagte, die Weinauswahl übernahm, ihr schließlich in den Mantel half, hatte sie gestört, aber sie hatte es hingenommen. Doch als er ihr dann, als sie den Mantel schloß, ihre langen Haare aus dem Kragen des Mantels zog und auf ihre Schultern legte, war sie stocksteif geworden. Zu intim erschien ihr die Berührung. Hatte er es bemerkt?
Was nahm er sich heraus?

Er sah sie an, solange, dass sie begann, an dem Kragen ihres Mantels herumzuzupfen, weil sie seinem Blick nicht ausweichen wollte. Dann sagte er: „Nun, wir werden wohl nach Hause gehen. Wenn Du zur U-Bahn-Station mußt, können wir noch ein Stück gemeinsam gehen, mein Auto steht auch in der Gegend.“

Sie meinte sich verhört zu haben. Schlug er ihr wirklich vor, einfach nach Hause zu gehen? Getrennt selbstverständlich?
„Gut, gehen wir“, sagte sie und wandte sich – vielleicht eine Spur zu hastig – in die Richtung zur U-Bahn-Station. Er folgte ihr.
Ihr Ärger begann sich zu vergrößern. Hatte er ihr wirklich ernsthaft vorgeschlagen, den Abend einfach so zu beenden? Nach all dem, was er ihr nonverbal mitgeteilt hatte?
Sie gingen nebeneinander, schweigend.
Warum hatte er nicht vorgeschlagen, dass sie noch irgendwo etwas trinken gehen könnten. Oder vielleicht tanzen?
Ihre Schritte halten auf dem Kopfsteinpflaster.
Nicht, dass sie zugestimmt hätte. Sie wollte ja nach hause. Aber sie hätte sich doch einen solchen Vorschlag erwartet. War ihre Wirkung auf ihn nicht nachhaltig genug gewesen. Sollte sie sich getäuscht haben?
Sie war nun zornig, auf sich, auf ihn. Er bekam von all dem nichts mit.
Was hatte er sich erwartet? War er enttäuscht? Aber warum dann sein eindeutiges Verhalten?

Die Gasse war eng, und ausgerechnet hier kam ihnen eine Gruppe leicht angeheiterter Touristen entgegen. Sie wichen in eine Nische bei einem Hauseingang aus, warteten bis der Trupp vorbei war, einander nicht ansehend.
Warum sieht er mich nicht an? fragte sie sich. Vorher hat er das doch auch getan! Was hat sich geändert?
Als die grölenden Jugendlichen vorbei waren und er wieder auf die Gasse treten wollte, hielt sie ihn am Ärmel seines Mantels fest. Er schaute sie einen Moment lang überrascht an, dann zog sie ihn zurück in die Nische, drängte ihn, der nach hinten stolperte, zwischen sich und das Haustor und küßte ihn. Nein, eigentlich presste sie ihre Lippen auf die seinen, relativ hart, grob fast, denn es dauerte eine Ewigkeit von vielleicht 10 Sekunden, bis er reagierte. Aber nur, in dem sein angespannter Mund weich wurde. Doch noch immer war sie es, die ihn küßte, zornig, wütend auf sich, dass sie so was machte und wütend auf ihn, dass er .. dass er… einfach nicht reagierte?
Fast wartete sie, dass sie darauf, dass seine Arme sich heben würden und er sie von sich schob.
Und er ließ sie warten.
Dann öffnete er seine Lippen und seine Arme packten ihre Schultern und zogen sie an sich.

Sie mochte ihn noch immer nicht. Sie war noch immer zornig, gekränkt Und aus dieser eigenartigen Mischung heraus, gierig. Sie hörte nicht auf, ihn zu küssen. Denn wenn sie ihren Mund von dem seinen lösen würde, das wußte sie, würde sie nicht wissen, was sie sagen sollte, was sie weiter tun sollte. Weil sie nicht mal genau wußte, warum sie ihn zu küssen begonnen hatte.
Als wollte sie vermeiden, dass er aufhörte, zog sie seine Hand von ihrer Schulter unter ihren Mantel, legte sie auf ihre Taille und schob ihren Arm unter seine Jacke, sich an ihn pressend.
Erst als sie ihre Hand über seinen Rücken gleiten ließ, begann auch die seine zu wandern, zog sie näher zu seinem Körper. Der Druck erregte sie und machte sie noch wütender. Sie begriff nicht, warum sie tat, was sie tat. Und warum sie diejenige war, die damit hatte beginnen müssen. In ihrer Wut krallte ihre Fingernägel in seinen Rückenmuskeln, spannte ihren Köper in seinem fester werdenden Griff. „Lass mich gefälligst los!“ dache sie, und machte selbst das Gegenteil.

Minuten (?) später: ein Räuspern hinter ihrem Rücken, leise zuerst, dann etwas lauter. Er löste zuerst seiner Hände Griff an ihr, seine Umarmung ihrer Hüfte, dann die Lippen von einander.
Sie mußte nicht hinsehen. Hinter ihr stand ein Mann, der offenbar in das Haus wollte, dessen Eingang sie gerade blockierten.

Plötzlich vollkommen erschlafft und jenseits jeder Wut, ließ sie die Arme sinken und trat einen Schritt zur Seite, weg von ihm.

Sie vermied es, ihn anzusehen und trat aus dem Hauseingang vor auf den Gehsteig. Er folgte ihr. Kühl war es jetzt, sie schloß ihren Mantel während des Gehens.

Keine zwei Minuten später waren sie an der U-Bahnstation.
Sie küßten einander auf die Wange. „Wir telefonieren,“ sagte sie.
„Ja, machen wir“, antwortete er. Sie wußten beide, dass das nicht passieren würde.
Sie sah sich nicht noch mal um, als sie die Station betrat. Sie hätte auch nur seinen Rücken gesehen, während er zu seinem parkenden Auto ging.
Als sie die Rolltreppe hinunter fuhr, lachte sie.


(NICHT nach einer wahren Begebenheit.)