Sonntag, 11. März 2007

ARACHNIDA

Spinnen sind keine Insekten.
Spinnen für Insekten zu halten – diesen Fehler begehen viele Menschen.
Spinnen sind in erster Linie mit den Pfeilschwanzkrebsen und den Skorpionen verwandt. Erst die weitläufigere Verwandtschaft in der Klasse der Gliederfüßer verbindet die Spinnen mit den Insekten.
Dabei sind Spinne sehr leicht von den Insekten zu unterscheiden: Insekten haben maximal sechs Beine. Spinnen aber haben acht Beine.
Wir haben acht Beine.
Ich habe acht Beine.

Ich lebe seit dem Ende des letzten Sommers hier.
Und im Grunde ist mein Wohnort von der Qualität, wie ich es mag. Ich habe meine Bleibe direkt unter einem der dunklen Panelen gefunden, die die Decke des hohen Raumes durchkreuzen. Sie sind so alt wie das Haus und das Haus ist ein Fachwerkbau.
Warum ich das weiß, obwohl ich eine Spinne bin?
Nun, ich weiß es eben. Weil ich eine Spinne bin. Eine Tegenaria atrica, eine Winkelspinne.

Das alte Holz zieht viele Insekten an. Jetzt im Frühsommer fliegen sie durch die Oberlichte des Fensters, besonders am Abend, wenn im Zimmer Licht brennt und wegen der lauen Luft draußen niemand daran denkt, die Fenster zu schließen.
Daher mag ich den Frühsommer – und dabei ist es mein erster. Nicht nur hier in diesem Haus, in das mich der Wind letzten Herbst durch eben dieses Fenster hereingeweht hat, als ich noch eine winzige, gerade geschlüpfte Jungspinne war, die an ihrem Faden durch die Luft schwebte, wie ein Paraglider. (Nein, bitte fragen Sie jetzt nicht, warum ich weiß, was ein Paraglider ist.) Die Menschen nennen diese Tage im Herbst, wenn wir Frischlinge durch die Luft segeln übrigens Altweibersommer. Da unsere Spinnfäden an die langen weißen Haare alter Frauen erinnern.

Ich habe noch keine alte Menschenfrau mit langen weißen Haaren gesehen.
Aber ich habe eine alte Menschenfrau gesehen, die orangerote kurze Haare, die farblich an die Körperfärbung von Fruchtfliegen, Drosophila melanogaster erinnern, hat
Fruchtfliegen gehörten bisher zu meinen Hauptbeutetieren.
Wobei, erlauben Sie mir die Bemerkung: wir Spinnen sind Beutegreifer. Wie Leoparden, Fischotter, Karpfen und Maulwürfe. Raubtier ist ein etwas überalterter Ausdruck, denn schließlich rauben wir ja nichts.

Fruchtfliegen sind bis vor Kurzem eine meiner Hauptnahrungsquellen gewesen. Sie hielten sich bevorzugt auf dem Obst auf, das farblich ansprechend (Ja, wir können Farben sehen!) drapiert in der Glasschüssel auf der Anrichte schräg unter meinem Dachbalken lag. Immer wieder stiegen sie in Schwärmen zu mir auf und verfingen sich zu Hauf in meinen Netzfäden, worauf ich mich veranlaßt sah, mehrere von ihnen einzusammeln und in meinen Trichter zu befördern, wo ich sie dann zerbiß und verzehrte. (Nicht alle Spinnen bevorzugen Flüssignahrung.) Weiters erfreute ich mich immer wieder an den Gelsen und Stechmücken, die nun im Frühsommer Abends durch die Oberlichte dem Geruch der Menschen folgen. Oder ich delektierte mich an der einen oder anderen Florfliege oder einer Schnake.
(Letztere ist übrigens keine Spinne, auch wenn viele sie dafür halten, und ebenso wenig eine Stechmücke, und doch müssen sie des Irrglaubens der Menschen wegen, sie seien welche, oftmals ihr Leben lassen, noch bevor ich es ihnen nehmen kann. )

Warum ich in der Vergangenheitsform erzähle, wenn es um meine Nahrung geht?
Nun, weil es Vergangenheit ist.
Und das hat mit der älteren Menschenfrau mit den drosophilafarbenen Haaren zu tun.

Sie nistete sich hier in den Räumen unter dem Dach, unter meinem Dachbalken ein, als vor einigen Wochen Regen eine mehrtägige Abkühlung und mir einen Mangel an Insekten einbrachte. Seit dem lebt sie hier unter dem Dach, schläft unter dem Dach und redet unter dem Dach mit einer etwas lauten Stimme, die meine Netzfäden erzittern lässt, mit den anderen Menschen, die bisher kaum Anteil an dem nahmen, was sich über ihnen im Raum tat.
(Menschen interessieren sich in der Regel nur für die durchschnittlich 175 cm Raumhöhe, die sie einnehmen, wogegen ich mich für die zwei Meter darüber interessiere, aber die 175 cm darunter nie unbeobachtet lasse.) Offenbar redete sie zu laut mit den anderen Menschen, denn ich sah diese seit dem nicht wieder.
Eine der ersten Handlungen, die die Frau mit den Drosophilahaaren setzte, war, eine netzartige Kuppel über die Obstschüssel zu stülpen. (Wobei „Netz“ in diesem Zusammenhang eine Beleidigung für eine jede Vertreterin meiner Gattung ist.)
Die Fruchtfliegen, ihrer Lebensbasis beraubt, starben binnen Stunden des Hungers, weit außerhalb meines Jagdgebietes, was ich bedenklich fand.
Kurz danach wurde ein gazeartiges Gewebe außen vor den Fenstern aufgespannt, so daß das abendliche Eindringen meines zweiten Nahrungslieferanten verhindert wurde.

Und dann kamen die Leiter, und die Spraydose, und die alte Menschenfrau, die auf die Leiter stieg.

Wie gesagt, Spinnen sind keine Insekten.
Und trotzdem sterben Spinnen, wenn sie mit Insektenspray eingesprüht werden.
Bis dato habe ich nicht nachvollziehen können, ob dies Absicht ist oder nur eine dumme Nebenerscheinung. Aber es ändert nichts daran.

Ich sah wie die alte Frau auf die Leiter stieg und sich umsah. Dann sah ich, was sie sah.
Zwischen einem Kasten und der Ecke einer Wand hatte eine Kreuzspinne ein Radnetz gewoben, erst zwei Nächte zuvor, und darin auf Fliegen gelauert.
Die Frau auf der Leiter sprühte das Insektizid auf sie, circa zwei Minuten lang.
Zunächst passierte nichts.
Dann fiel die Spinne zu Boden.
Ich habe gute Augen, acht an der Zahl – einfach zu merken, es ist die gleiche Anzahl wie Beine – und sah alles.
Die Kreuzspinne hatte das Gift durch ihre Tracheen aufgenommen und durch das Blut wurde es in den Körper transportiert, in das Gehirn, in die Ganglien.
Spinnen fühlen Schmerz.
Diese Kreuzspinne fühlte ihn, während ihre Gliedmassen krampfartig zuckten, sich zum Körper bogen, die Kieferscheren zuckend schnappten.
Das dauerte ebenso lange wie die Frau brauchte, um von der Leiter herunter zu steigen, eine Zeitung von der Anrichte mit der Obstschüssel zu nehmen, dies zu falten, sich vor die sterbenden Kreuzspinne auf den Boden zu hocken, auszuholen und mit der Zeitung auf den Körper der Spinne zu schlagen.
Ich habe keine Ohren, aber ich nehme Schall durch die Borstenhaare auf meine Gliedmassen wahr. Daher wußte ich, dass es einklatschendes Geräusch ergab, als der Körper der Kreuzspinne zerdrückt wurde.
Dann hob die Frau die Zeitung und betrachtete die bräunlich-beige, körnige Masse, die auf dem Papier klebte.

Ich habe keine Gefühle. Aber ich fand nicht gut, was hier passiert war.
Der Vorgang wiederholte sich noch zwei Mal an zwei anderen Stellen des Zimmers.
Dann faltete die Frau die Leiter zusammen, lehnte sie in eine Ecke und verließ den Raum.
Ich wartete.
Und hatte Hunger.

In der Nacht danach hatte eine andere Radnetzspinne ihr Netz aufgespannt.
Sie starb am nächsten Morgen ebenso wie die anderen zuvor.

Ich wartete
Und hatte noch mehr Hunger.

Am nächsten Tag verendete eine Wespe, ein Weberknecht und drei Schmeißfliegen, die in das Zimmer geflogen kamen, während die alte Frau eine Decke am offenen Fenster ausschüttelte. Leider konnte ich keine der Kreaturen zuvor unter meinem Dachbalken begrüßen.

Ich wartete wieder.
Mein Hunger nahm zu.

Am vierten Tag starben die anderen beiden Winkelspinnen.
Nun war nur mehr ich übrig.

Am fünften Tag sah die alte Menschenfrau meinen Trichter.
Sie holte die Leiter, stellte sie auf, nahm die Dose und begab sich zu meinen Dachbalken hinauf.
Ich wartete.
Und beobachtete, wie sie das Gift in meinen Trichter sprühte. Dann sprang ich.
Ich bin schnell, wenn ich springe und ebenso schnell spult sich der Spinnfaden aus meiner Drüse am Hinterleib ab.

Ich landete direkt am Nacken unter den drosophilafarbenen Haaren der alten Menschfrau und biß sie.
Mein Biß ist nicht giftig. Aber man spürt ihn.
Sie spürte ihn.
Und riß die Arme nach hinten, mich zu erschlagen, doch ich war schon wieder oben am Balken, wo ich mich zuvor versteckt hatte.
Dort sah ich, wie sie das Gleichgewicht verlor.
Und taumelte.
Und von der Leiter fiel.

Sie schlug am Boden auf und da ich nicht in meinem Netz war, konnte ich nicht fühlen, ob es ein Geräusch machte, als sie aufschlug.

Es war schwül in den nächsten Tagen, doch der Gazestoff vor dem Fenster verhinderte, dass Insekten hereinkamen.
Doch ich mußte nicht hungern.
Sacrophagidae oder Fleischfliegen finden immer einen Weg, wenn sie zu verwesenden Körpern wollen. Und ab und zu verirrt sich eine von ihnen zu mir herauf.
Und ich fange sie in meinem Trichternetz und fresse sie.
Ich bin eine Spinne.