Mittwoch, 14. März 2007

KONFEKT

Als Thomas die Türe öffnete, kam Mick (so wollte Michael seit kurzem genannt werden) mit einer Konfektschachtel unter dem Arm herein.
Thomas fragte erst gar nicht, warum Mick läutete und nicht aufsperrte, da er doch einen eigenen Schlüssel hatte.
Aber er fragte nach der Schachtel.
Mick zuckte mit den Schultern. „Was für Zeichnen“, meinte er. „Mama will nicht, dass ich es bei ihr lasse.“ Fügte er noch hinzu.
Das machte Thomas jetzt natürlich neugierig. Etwas, was seine Ex-Frau nicht wollte, und das sein Sohn nun zu ihm, dem Vater mitnehmen mußte… Er grinste.
„Und was?“ fragte er („.. ist das, was Deine Mutter nicht bei sich haben will?“)
Mick schaute seinen Vater an, als könne er nicht verstehen, wie man ernsthaft so etwas fragen würde. „Na was zum Zeichnen!“ sagte er daher etwas rotziger.
Dann ließ er die Schultertasche mit den Schulbüchern und die Sporttasche auf den Boden knallen, schob sich an Ort und Stelle aus den Sneaker und verzog sich mit „Ich geh mal an den PC.“ in sein Zimmer und ließ seinen Vater allein im Flur.
Die Konfektschachtel hatte er neben das Telefon auf die Kommode gestellt.

Nicht das Thomas ein anderes Verhalten von seinem Sohn gewohnt war, zumindest nicht seit den letzten eineinhalb Jahren, und davor hatte er Mick nicht wirklich oft gesehen. Meistens am Wochenende, aber da war ja Agnes dabei gewesen, so daß das nicht so wirklich zählte.

Irgendwann vor etwa zwei Jahren hatte er eine Zeit lang auf eine Art Teilzeit-Vater-Sohn-WG gehofft, in der Mick und er ganz auf Kumpel, auf Freunde, die 26 Jahre nicht wirklich trennten, lebten, über Tennis und Golf redeten und später dann über Tennis und Golf und Frauen und irgendwann vielleicht auch über Tennis und Golf und Aktienindizes und Frauen.
Aber irgendwas schien in der Planung schief gegangen zu sein. Möglicherweise, dass sein 15jähriger Sohn für Tennis und Golf noch nicht so wirklich reif war….

Thomas seufzte. Nicht, dass er etwas für den Abend mit Mick geplant hätte, außer vielleicht eine Pizza oder was vom Chinesen zu bestellen, aber irgendwie war er plötzlich demotiviert.
Er fragte sich, wie andere Väter ihre Besuchstage mit ihren Söhnen verbrachten. Aber das würde er wohl nie erfahren. So viele Fehler Frauen hatten, aber für sie war es kein Problem, von der Gruppendiskussion über die neuen Marktstrategie nahtlos auf eine Austausch über die Schulprobleme ihrer Teenagerkinder über zu gehen.
Das war mit seinen männlichen Kollegen nicht möglich. „Hey, Zehetner, sagen Sie mal, wie verbringen Sie so die Abende, wenn ihrer Jungs bei Ihnen sind. Und wie geht es Ihnen damit emotional?“ Nein, unmöglich…

Dann sah er die Konfektschachtel. Thomas grinste. Jetzt waren sie schon seit fast zwei Jahren getrennt und im Grunde in Frieden… aber es freute Thomas trotz alle dem, dass es etwas gab, was Agnes Mick verbot und mit dem er dann zu seinem Vater kam.
Er starrte die Schachtel an. Sie war vielleicht so groß wie ein A4-Papierplatt und gerade acht Zentimeter hoch. Und so, wie Mick sie unter dem Arm gehalten hatte, konnte sie nicht all zu schwer sein.

„Was zum Zeichnen“ … ja, aber WAS zum Zeichnen?
Thomas hatte Agnes schwerstens gerügt, als sie mal die SMS gelesen hatte, die in Micks Handy gespeichert waren, das sie versehentlich – ganz versehentlich – mit dem ihren verwechselt hatte. „Du negierst die Intimsphäre unseres Sohnes“, hatte er sich ausgedrückt. „Blödsinn, ich bin seine Mutter und sollte zu seiner eigenen Sicherheit wissen, mit wem und wie er so Umgang hat.“
Nein, er, Thomas, war da ganz anderes gelagert. ER wahrte die Intimsphäre seines Sohnes, egal ob sie aus dem Inhalt eines Handys oder dem einer Konfektschachtel bestand. „Nein, ich nicht“ , sagte er halblaut und straffte die Schultern, und gleich darauf war es ihm peinlich, weil es Mick in seinem Zimmer vielleicht gehört haben könnte. Thomas verschob die Konfektschachtel gedanklich ins Archiv und ging ins Wohnzimmer, um ein wenig im Internet zu surfen und um endlich das Mail an die eine 35jährige („Gott, hatte die riesige…“) fertig zu schreiben, der er im Grunde nur sagen wollte, dass die Nacht zwar toll war, er sich aber nach dem Ende seiner Ehe noch nicht reif für eine neue Beziehung fühle.

Gegen 20 Uhr bestellte er eine Pizza, deren Lieferung Mick veranlaßte, Mortal Combat Teil 21 oder Die Siedler von Catan, 16.Version zu verlassen und sich ins Wohnzimmer zu begeben. Im Fernsehen lief der vorletzte James Bond, von dem Thomas meinte, dass das ein geeigneter Film für einen Vater-Sohn-Männer-Abend sei.
Mick zeigte seine Meinung zu dem Film nicht deutlich, aber als um 20 Uhr 45 ein SMS für ihn kam, tat es ihm zumindest nicht sichtbar leid, dass er den Fernsehabend mit seinem Vater für ein Treffen mit einem aus seiner Clique abbrechen mußte. (Wobei Thomas nicht ganz heraushören konnte, ob der jemand unter Umständen weiblich war… denn dann hätte er endlich seinem Sohn die „wie mit Frauen umgehen sollte“- Tips geben können, die er schon seit Jahren für diesen Anlaß geistig gespeichert hatte.) Mick pappte etwas Gel in die Haare schlüpfte in die Sneakers, die Thomas nicht zur Seite geräumt hatte. (Agnes hatte das immer getan –aber sie verzog den Jungen von Anfang an.) „Um 23 Uhr bist Du wieder da! „rief ihm Thomas hinter her, dann viel die Tür ins Schloß.
„Der Junge ist einfach ein Teenager. Ich als liberaler Vater werde ihm sicher nicht das Fortgehen verbieten!“ erklärte er den Resten der Pfefferonipizza, die schon etwas ausgekühlt waren.
Der vorletzte James Bond war nicht wirklich spannend, aber Thomas sah sich verpflichtet bis zum obligatorischen Kuß am Ende durchzuhalten, damit der Männer-Abend zumindest pro forma einen gültigen Verlauf nahm. Last man standing…. Dann holte er sich ein Bier und überlegte, ob er jetzt in der passenden Stimmung war, das Mail an die 35jährige mit der göttlichen… zu schreiben.
Aber davor sollte er sicherheitshalber aufs Klo gehen, sonst konnte er sich am Ende nicht konzentrieren.
Im Flur, neben der Klotüre, stand die Kommode.
Auf der Kommode lag die Konfektschachtel.
Erst jetzt fiel Thomas auf, dass er die Bierflasche noch in der Hand hielt, die er sicher nicht aufs WC mitnehmen würde, und stellte sie neben die Konfektschachtel. Dafür mußte er diese etwas zur Seite schieben. Sie war tatsächlich leicht.
Aber das konnte ihm als liberalen Vater ja egal sein, er vertraute ja seinem Sohn. Somit konnte er reinen Gewissens sich erleichtern, damit er endlich das Mail schreiben konnte, wofür er seit fünf Tagen keine Zeit gefunden hatte, was die 35jährige mit drei Nachfragen ob des Status quo quittiert hatte, was die Qualität ihrer.. etwas trübte.
Entschlossen zu tun, was ein Mann tun mußte, verließ Thomas das WC (Die Klobrille beließ er seit fast zwei Jahren oben. Aus Protest. Gegen Agnes. Obwohl diese seine Wohnung noch nie betreten hatte. Und obwohl es mitunter unangenehm war, sich in den kühleren Winternächten auf den kalten Keramikrand der Klomuschel zu setzen.)
Er setzte sich vor seinen PC, klickte im Ordner ein Mail und dann „Antworten“ an und legte die Finger auf die Tastatur und starrte die blauweiße Bildschirmanzeige an. Er hatte keine Ahnung, was er schreiben sollte. „Liebe…“ tippte er.. und löschte es dann sofort wieder. „Liebe..“ ist ganz falsch, dachte er. „Das bekommen Frauen sofort in die falsche Kehle.“
„Hallo…“ Nein.. auch nicht so gut, das klang zu .. zu freundschaftlich, und das wollte er nun doch auch nicht. „Wir können ja Freunde sein,“ lief darauf hinaus, dass sich die Frauen dann noch Hoffnungen machten. Also nur der Vorname… war der nun Marion oder Miriam?
Thomas verzog den Mund, der schon ganz trocken vor Anstrengung war. Aber das Bier.. stand auf der Kommode am Flur. Also wieder aufstehen und raus, alles nur wegen dieses Mails an diese 35jährige Marion/Miriam….
Er ging zur Kommode, nahm die Bierflasche etwas zu schwungvoll und schubste damit die Konfektschachtel zu Boden. „Mist,“ dachte er und hob sie auf - sie war wirklich relativ leicht – und legte sie auf die Kommode zurück. Mit dem Bier in der Hand setzte sich Thomas wieder vor den PC. Er nahm einen kräftigen Schluck. Dann tippte er „Miriam“ und „ , „ (Wenn sie doch Marion hieß, war es egal, sie hatten ja nicht wirklich viel miteinander geredet….) Er nahm noch einen Schluck, wollte schon weiterschreiben, stoppte aber dann.
Was wenn in der Schachtel etwas Zerbrechliches drinnen war, das nun, durch den Sturz beschädigt worden ist?
Thomas überlegte. Wenn dem so war, wie sollte er es dann seinem Sohn erklären? Mick würde doch glauben, dass Thomas nachgesehen hatte und es dabei beschädigt hatte.
Er wurde unruhig, trank noch mal vom Bier und dachte nach.
Nein, es ging nicht anders, er mußte nachsehen. Wenn das Ding in der Schachtel beschädigt war, dann konnte er es vielleicht reparieren. Wenn es nicht mehr reparierbar war, dann würde er einfach abstreiten, die Schachtel je auch nur irgendwie berührt zu haben.

Zwei Sekunden später stand Thomas vor der Kommode und stellte das Bier, das er zur Verstärkung mitgebracht hatte, neben die Schachtel.
Dann nahm er sie an der Schmalseite in die Hand. Und betrachtete sie eingehend. Sie stammte von einem exquisiten Schweizer Erzeuger und war sicher nicht billig gewesen. Mick mußte die Schachtel von seiner Mutter haben – leer natürlich – aber woher zum Teufel hatte Agnes sie? Oder vielmehr noch: von wem? Wer schenkte Agnes derart teures Konfekt? Micks früherer Mathematikprofessor, mit dem sich Agnes einige Zeit lang nach der Scheidung getröstet hatte, konnte sich so was wohl nicht leisten. Hatte Agnes einen neuen Verehrer? Thomas beschloß Mick, so von Vater zu Sohn, mal etwas darüber zu befragen, ob er wußte wie seine Mutter die Abende in letzter Zeit verbrachte, ob ihm etwas verdächtig vorgekommen war usw.
Aber gut, darum ging es derzeit nicht. Sondern nur darum, Schaden zu vermeiden, und den hatte womöglich der Inhalt genommen, unabhängig von der Verpackung.
Sehr vorsichtig trug Thomas die Schachtel (und auch das Bier) ins Wohnzimmer, schob die Pizzaschachtel beiseite, so daß ausreichend Platz am Couchtisch frei wurde und plazierte beides auf der Resopalplatte des Tisches. Dann hielt er inne und starrte den Deckel der Kartons an, als ob er ihn durch bloße Willenskraft zum Öffnen bringen konnte.
Schließlich beschloß er die Sache in Angriff zu nehmen, er schob den Deckel, der relativ dicht am Boden saß, an, bewegte dabei die Schachtel immer wieder hin und her, bis er ihn ganz angehoben hatte.
Ein Schwall Gestank kam ihm entgegen, den Geruch der Pfefferonipizza gerade überdeckend. Angewidert schaute er in die Schachtel, die mit Klarsichtfolie ausgebreitet war, einen toten Frosch in unbekanntem Stadium der Verwesung.

Thomas war entsetzt – erschrocken oder angeekelt zu sein stand einem Mann seiner Meinung nach nicht zu. Also war er entsetzt.
Aber eines beruhigte ihn, der Frosch war schon länger tot und nicht erst zuvor durch das Herunterfallen der Schachtel auf den Boden gestorben, denn seine Gedärme, die aus dem weißlich-aufgequollenen Bauch heraushingen – der Frosch lag am Rücken – waren schon etwas eingetrocknet und wiesen nicht den feuchten Glanz auf, den frische Eingeweide (zumindest nach Thomas Harris) hatten. Der gesamte Frosch hatte eine etwas farblose Erscheinung. Thomas versuchte sich zu erinnern, ob man zu dem Vergammeln eines der Luft ausgesetzten toten Organismus nun richtigerweise tatsächlich Verwesen sagte – auch wenn keine Fliegen herumschwirrten - oder ob es sich um Verfaulen oder Verschimmeln handelte.
Nun, er erinnerte sich nicht mehr – früher hätte er Agnes gefragt, die war die naturwissenschaftlich Gebildete in ihrer Ehe gewesen. Aber früher war vorbei, Agnes ..
Agnes! Wie konnte sie ihrem Sohn erlauben, einen toten Frosch mit nach Hause zu bringen!
Gut, sie hatte es ihm nicht erlaubt. Daher war Mick ja mit der Konfektschachtel zu ihm, seinem Vater gekommen – weil „Mama nicht will, dass ich es bei ihr lasse.“

Thomas Gedanken schlitterten hin und her.
Er saß vor der offenen Schachtel, deren ihr entströmender Geruch mittlerweile mit dem der Reste der Pfefferonipizza und dem des Bieres ein interessantes Konglomerat gebildet hatte und starrte den Frosch an, als ob diese jeden Augenblick wieder zu zucken beginnen konnte.

Warum, um alles in der Welt, hatte sein Sohn einen toten, aufgeplatzten Frosch in einer Schachtel bei sich?
Was hatte ihn dazu veranlaßt? Hatte er am Ende den Frosch getötet und trug ihn nun als Mahnmal für seine Schuld mit sich herum? Oder als Trophäe?
Thomas wurde unruhig.
Hier lag ein toter Frosch in einer Schachtel und Mick – Michael! – sein Sohn hatte ihn mitgebracht. Michael, dessen Nabelschnur er durchtrennt hatte, schleppte tote Tiere mit sich herum! Was kam als nächstes?

Thomas überlegte fieberhaft. Hier war etwas im Argen – mit Michael. Und er hatte es nicht erkannt. Er hatte nicht mitbekommen, was in seinem Sohn vor sich ging, und mit einem Mal begriff er das Verhalten seines Sohnes als Gesamtes. Die Pubertät, die ihn gerade aufs Schwerste heimsuchte, seine Zurückgezogenheit, sein Desinteresse an allem, was ihm Thomas anbot. Hier schrie die gequälte Seele eines jungen Menschen um Hilfe!
Und sie tat dies stumm in Form eines verwesenden, stinkenden Frosches. Der Frosch war ein Zeichen, Michaels Zeichen.
Und er hatte es zunächst seiner Mutter dargebracht. Doch diese wollte von der Not ihres Sohnes nichts wissen, so daß er sich nun an ihn, seinen Vater, seinen Erzeuger wandte.
Guter Junge! Er hat instinktiv gewußt, wer ihn verstehen würde!
Und Agnes: sie hatte als Mutter versagt. Thomas war enttäuscht und andererseits sah er sich in den Vorwürfen – nun zurecht!- , die er ihr in der Eskalationsphase vor der einvernehmlichen Scheidung gemach hatte - bestätigt. Sie hatte den Jungen nicht richtig erzogen. Wäre Thomas mehr zuhause gewesen, hätte er ihr schon zeigen können, wie man mit einem Kind wirklich umgeht. Aber nun sahen sie das Ergebnis!
Und überhaupt: es war Agnes gewesen, die die Scheidung wollte. Nachdem die auf seine Affäre mit der Accountmanagerin draufgekommen war und aus Rache dem Studenten von unten Mrs Robinson vorgespielt hatte, wollte sie nicht die Vernunft gelten lassen und hatte auf die Trennung bestanden. Nun sah sie, was sie angerichtet hatte! Michael, sein Ein und Alles, gab sich mit toten Fröschen ab!
Er rief Agnes an.
Nach dem elften Läuten hob sie ab. „Was ist denn los? Ich habe schon geschlafen!“ sagte sie mit deutlich belegter Stimme. Thomas stutze einen Augenblick. Warum war sie zuhause und nicht unterwegs, tanzen, was trinken, mit fremden Männern … ? Oder war sie am Ende nicht alleine zuhause? „Agnes, wir müssen reden!“ sagte Thomas sehr bestimmt in seiner Abteilungsleiterstimmlage. „Thomas, es ist 22 Uhr“, kam es von Agnes schon etwas wacher. „Ich muß morgen um 3 Uhr früh zum Flughafen. Ich muß ausgeschlafen sein, verdammt noch mal, kann das nicht warten?“
„Nein, kann es nicht! Es geht um Mick – äh – Michael“
„Hat er die Englisch Arbeit verhaut?“
Englisch-Arbeit? Welche Englisch-Arbeit? „Nein, er hat einen toten Frosch.“
Schweigen – war sie schockiert? Hatte sie endlich begriffen?
„Ach so, der Frosch. Und deswegen rufst Du mich an?“
Thomas war perplex. Agnes´ Desinteresse an Michaels schlimmer Gemütsverfassung schien ihm unfaßbar. „Agnes, er hat einen toten Frosch in einer Schachtel. Er will uns damit etwas sagen!“
„Mit einem Frosch?“
Diese Frau konnte ihn noch immer zur Weißglut treiben mit ihrer Ignoranz. „Heute ist es ein toter Frosch und was kommt als nächstes?“
„Eine tote Katze?“ fragte Agnes.
„Ich wußte, warum ich mich scheiden lassen wollte!“ kam es Thomas aus.
„Moment, ich wollte mich scheiden lassen“, wurde Agnes plötzlich doch auch etwas heftiger. Offenbar begann sie zu verstehen, was im Busch war.
„Und das hast Du nun von Deinem Bestreben: Unser Sohn leidet still vor sich hin, unter dem Druck unfähig sich zu äußern und zeigt uns dies…“
„.. in Form eines toten Frosches?“ vollendete Agnes den Satz.
„Genau!“ Oh so viel der Worte, bis sie endlich verstanden hatte.
„Thomas, Du spinnst. Und ich geh jetzt schlafen.“ Dann ein Klicken und der Summton des abgebrochenen Gespräches.
Thomas war fix und fertig. Agnes hatte als Mutter versagt.
Nein, er durfte ihr das nicht alleine zum Vorwurf machen. So aufrecht mußte er jetzt sein. Auch er hatte als Vater versagt. Aber nun war der Frosch an der richtigen Stelle gelandet und er würde sich der Sache, nein – seines Sohnes annehmen, wie es ein Vater zu tun hat.

Aber zu allererst mußte der Frosch am weiteren Verwesen gehindert werden, denn schließlich wurde er noch gebraucht, als Zeichen, als Mahnmal.
Thomas trug die Schachtel zum Kühlschrank. Doch sie war zu groß, um einen Platz zwischen den Bierflaschen und Coladosen, den eingelagerten, aber trotz ihres überschrittenen Ablaufdatums sicher noch genießbaren Dauerwurststangen und Joghurtbechern und dem Rest des Gulasch von vorigem Dienstag zu finden.
Der Frosch mußte ohne Schachtel in den Kühlschrank.
Thomas holte die Tupperwareschachtel hervor, in der ihm die alleinstehende Nachbarin bei seinem Einzug einen Begrüßungskuchen vorbeigebracht hatte, und die er nie zurückgegeben hatte, weil er die darauffolgenden fünf Monate nach seinem Einzug vermieden hatte, ihr zu begegnen, bis schließlich der Wachmann der Bankfiliale von Gegenüber bei ihr einzog.
Vorsichtig ließ er den Frosch von der Konfektschachtel in die Tupperwarebox hinüber gleiten. Der Frosch platschte trotzdem auf den Plastikboden der Box und sein Maul öffnete sich und ließ eine leuchtend – fast obszöne - rosa Zunge von erstaunlicher Dicke herausfallen, die im Vergleich zu den angetrockneten, nur leicht verrutschten Eingeweiden noch relativ frisch wirkte. Jetzt sah der Frosch wirklich absolut erledigt aus.
Thomas legte den Deckel auf die Box und drückte vorschriftsgemäß („Der luftdichte Verschluss hält den Inhalt länger frisch!“) diesen zu. Dann stellte er die Box in den Kühlschrank. Er fühlte sich erleichtert.
So regelte ein Mann solche Angelegenheiten, wenn er das Leben seines Sohnes beschützen wollte.
Als nächstes würde er mit Mick – Michael! – wie konnte Agnes nur so eine Verballhornung dieses Namens zulassen?. Jeder Schritt brachte den Abgrund näher. – behutsam aber bestimmt, ihm den dringend notwendigen Halt gebend, darauf ansprechen, wenn dieser heimkam.
Und inzwischen mußte er sein Bier fertig trinken.
Im Vorbeigehen machte er halt an seinem PC, weil der Eingang eines neuen Mails angezeigt wurde. Von Maria. (Maria! – nicht Marion, nicht Miriam!) Maria hatte ihm geschrieben, dass sie gestern einen andern Mann kennengelernt hätte und sich in ihn verliebt hätte. Dieses verlogene Miststück! Ihm macht sie etwas von Zuneigung und Gefühle vor und kaum ist er für ein paar Tage in beruflichen Stress, wendet sie sich einem anderen zu. Weiber!
Und wenn er schon vor dem PC saß, dann konnte er doch gleich auch sein Lieblingsforum besuchen, oder neue Freedownload-Videos runterladen…

Thomas registrierte Micks Heimkommen zwei Stunden später erst, als dieser neben ihm stand.
„Ich hol mir noch was zu trinken“, sagte Mick.
„Ja, ja, mach das, Coke ist im Kühlschrank“, antwortete Thomas, nur mal kurz vom Bildschirm aufschauend.
„Dad?“ Mick sagte Dad, seit dem er sich selbst Mick nannte.
„Ja?“
„Was hat Du da im Kühlschrank?“
Kühlschrank? Bier, abgelaufenes Joghurt, abgelaufene Dauerwurst… die Box mit dem Frosch!
Thomas sprang auf, ging zu Mick, der mit einer Coladose in der Hand in der Küche stand, legte ihm die Hände auf die Schultern und schob ihn zu der Couch ins Wohnzimmer. Mick stellte die Dose auf den Couchtisch neben die Schachtel mit den Resten der Pfefferonipizza und starrte seinen Vater an, als ob diesem gerade Fühler gewachsen wären.
„Wir müssen reden, Sohn!“ sagte Thomas, dem diese Worte ob ihres Gewichts immer mehr gefielen.
„Wegen dem in der Plastikbox?“ fragte Mick zweifelnd?
„Ja. Auch.“ Thomas zögerte –waren heute alle schwer von Begriff?
„Michael,“ er seufzte und machte eine rhetorische Pause. „Mein Sohn, ich möchte, dass Du weißt, dass ich immer für Dich da bin. Egal, was sein wird. Du sollst mit jedem Kummer, der Dich bedrückt zu mir kommen können. Ich werde immer ein offenes Ohr für Dich haben und Dich nie wegschicken. Hier bist Du willkommen. Besonders in diesen für Dich schweren Zeiten!“ Thomas war gerührt.
„Dad, wieso hast Du die Schachtel aufgemacht?“
Himmel, es hatte Mick wirklich hart im Griff! „Weil ich mir sorgen um Dich gemacht habe! Es war meine väterliche Pflicht nach all dem, was Deine Mutter und ich Dir zugemutet haben!“
„Und deswegen ist er jetzt in der Plastikbox im Kühlschrank?“
Ja, mein Sohn!“ weil Du mit mir reden kannst – über alles. Und Du dazu nicht erst so einen abscheulichen Frosch mitbringen mußt.“
„Sorry, er dürfte schon zu stinken begonnen haben. Wahrscheinlich war es eh eine blöde Idee…“
„Nein, mein Sohn, es war eine gute Idee, eine wichtige Idee! Denn Du bist wichtig. Du bist mir das wichtigste auf der Welt. Und Deiner Mutter wahrscheinlich auch….!“
„Nö, es ist eine doofe Idee. Wie soll ich für das Renaissance-Projekt eine Naturstudie zeichnen, wenn das Objekt schon halb zerfallen ist? Ich hätte doch eine Geranie nehmen sollen, wie Mama vorgeschlagen hat. Und nichts, was ich auf der Strasse gefunden habe….“
Thomas starrte Mick an.
„Und außerdem, Dad, es ist eine Kröte!“