Samstag, 24. März 2007

„ ... THEN MEND IT, THEN MEND IT.“

Kilian saß an seinem Schreibtisch im Arbeitszimmer, als er es zum ersten Mal sah.

Eigentlich hatte er gerade ein paar Pornoseiten aufgerufen und war auf was Stimulierendes gestoßen. Um die Stimulans zu fördern, schob er den Sessel etwas vom Tisch weg, um eine bequemere Position zu finden, die ihm auch freien Zugang zu dem bot, was er da zu stimulieren gedachte. Er fummelte gerade an seiner Hose rum, holte raus, was rauszuholen war, setzte an .. und dann sah er es.

Wahrscheinlich hätte er es in der momentanen Stimmung, die Gedanken eher bei den beiden vollbrüstigen Blondies, die gerade dabei waren, sich gegenseitig was Gutes zu tun, übersehen, wenn es nicht ein wenig gezittert hätte.

Nein, zittern war das falsche Wort – Kilian war wirklich kein Techniker, aber es schien das Wort „fluktuieren“ noch passender. Und es erregte seine Aufmerksamkeit.

Vorsichtig, seine Halbmastposition berücksichtigend, stand er auf und ging auf die Zimmerecke neben dem Schreibtisch zu. Zwischen Bücherregal und dem Keramiktopf von Katjas umsorgtem zwei Meter hohen Gummibaum, gegenüber der Ecke mit der Asherman-Skulptur befand es sich, etwa eine Spanne von der Sesselleiste entfernt, mitten am Parkett.

Es war ein Fleck, vielleicht drei Zentimeter im Durchmesser, schwarz im spärlichen Licht der Schreibtischlampe. Ein runder Fleck mit fluktuierenden, zitternden Rändern.

Kilian starrte drauf, als ob plötzlich eine Giftspinne sein Arbeitszimmer als Wohnstatt okkupiert hätte. Er wusste, dass sich ein Fleck nicht bewegen konnte, und doch sah er, wie dieser Fleck es tat. Ein unregelmäßiges Pulsieren und Zucken, ein Wabern, ein Beben.

Kilian merkte, wie er plötzlich verärgert wurde. Der Fleck störte ihn. Nicht nur, dass er grundsätzlich da war und somit seine Herkunft noch ermittelt werden musste. Nein, dieser Fleck erdreistete sich auch noch, ihn durch seine unorthodoxen Bewegungen davon abzuhalten, was er gerade hatte tun wollen. Und das schätzte Kilian schon gar nicht.

Also beschloss er, den Fleck zu ignorieren. Denn wo käme er denn da hin, wenn er sich durch so etwas irritieren lassen würde!
Er kehrte zurück zu seinem Schreibtisch, ließ sich in den Sessel fallen und startete neuerlich den Videoclip, zu dem er sich zuvor mittels Passwortknackerprogramm illegal Zutritt verschafft hatte. Wie auf Kommando stöhnten die Blondies los, rieben ihre Möpse und sonst noch was aneinander und begannen mit allerlei Gummizeug zu spielen.
Kilian begann seinerseits erst herumspielend, dann immer ernsthafter und rhythmischer an sich zu werken und fing beim ersten Klimax der Blondies selbst zu schnaufen an.
Dann ein Zucken am Rande des Blickfelds, rechts von ihm, zwischen Gummibaum und Fenster.
Der Fleck hatte sich wieder bewegt.
Kilian grunzte und spürte im selben Augenblick erschlaffen, was sich angesammelt hatte.
Er fluchte laut während die Blondies weiter ihre Ouhsss und Ahhhs von sich gaben.
Das Ding nervte und er begriff, dass er keine Befriedigung finden konnte, solange es da war.

Was hatte so ein Fleck hier in seinem Zimmer verloren?

Katja würde was zu hören bekommen, wenn sie wieder vom Urlaub zurückkam. Wie oft hatte er ihr schon gesagt, dass sie nachkontrollieren musste, wenn Svetlana zum Putze angetreten war. Wie konnte sie so was übersehen haben?

Kilian verließ sein Arbeitszimmer, suchte im Abstellraum herum, bis er etwas Brauchbares fand und fühlte sich an seine Junggesellenzeit erinnert, als er – nachdem er seiner Mutter, die sich über die gebrauchten Kondome unter dem Bett beschwert hatte – verboten hatte, seine Wohnung zwecks Aufräumen zu betreten, selbst fürs Putzen zuständig gewesen war.

Mit einem Lappen und einer Flasche Allzweckreiniger kehrte er ins Arbeitszimmer zurück.
In einer Position, die er fast als unwürdig empfand, nämlich am Boden kniend, wobei er sich gemahnte, wieder mal ins Fitnessstudio zu gehen, tränkte er den Lappen mit reichlich Reiniger und machte sich über den Fleck her.
Er setzte am Rand an und rutschte im nächsten Moment mit dem Putzlappen ab.
Es war kein Fleck – es war ein Loch.

„Was zur Hölle...!“ Kilian starrte auf das schwarze Ding vor ihm, das nervös zu wackeln schien, soweit etwas Zweidimensionales wackeln konnte.

„Das darf doch nicht wahr sein!“ Kilian hatte Katja hundert Mal angewiesen, den Kindern zu verbieten, in seinem Arbeitszimmer zu spielen. Offenbar hatte sie sich wieder mal nicht durchsetzen können und die Kinder hatten hier in seiner Abwesenheit toben dürfen.
Wenn die zurückkamen, dann....

Das Lock zuckte und ... wurde größer, um eine Winzigkeit, aber doch.
Kilian kniff die Augen zusammen, aber er wusste, er hatte sich nicht getäuscht. Instinktiv stopfte er sein mittlerweile vollkommen erschlafftes Ding zurück in die Hose.

Vorsichtig tastete er mit einer Ecke des Putzlappens noch mal drüber und die Ecke drang in das Loch ein, ohne Widerstand.
Was hatten die Kinder hier aufgeführt? Er sah sie im Geiste ausgerüstet mit seiner Werkzeugbox in sein Arbeitszimmer stürmen, dabei die teuren Soundboxen rammend, die Asherman-Skulptur zertrümmernd und schließlich wie die Furien über den Parkett herfallend.
„Taschengeldentzug“ tönte es in ihm, allein schon der Mühe wegen, dass er Katja nun anhalten musste, einen Bodenleger kommen zu lassen, um den Schaden auszubessern.
Er erhob sich, verärgert, aus mehreren Gründen und die Tatsache, dass ihm nun die Lust, sich einen runter zu holen, vergangen war, war einer davon.

Das Loch zuckte. Und wurde wieder größer.
Und Kilian wurde wütender.

Er ging, nein stürzte neuerlich in den Abstellraum, griff sich eine dort von Katja für eventuelle Stromausfälle bereitgestellte Taschenlampe, rechnete mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit damit, dass die Batterie leer war und stürmte zurück ins Arbeitszimmer, fiel neuerlich auf die Knie und knipste die Lampe an, die erstaunlicher Weise sogar funktionierte.

Der Lichtkegel zielte direkt in das Loch hinein, aber dieses blieb schwarz, was irgendwie – soweit reichte Kilians naturwissenschaftliche Kenntnis aus der Schulzeit noch – unmöglich war. Aber egal, wie er die Taschenlampe ausrichtete – das Loch blieb schwarz und entzog sich somit jeder Erkundung.
Aber so schnell lies Kilian nicht locker – nein, er nicht. Er war als harter Verhandler, als präziser, mit der Fähigkeit zu messerscharfen Analysen ausgestatteter Ressortchef bekannt und den Ruf würde er doch einem Loch gegenüber nicht verlieren.

Auf Knien – welch unwürdige Art – bewegte er sich zum Schreibtisch, griff dort nach einem Kugelschreiber und beugte sich neuerlich über den Eindringling in seinem Arbeitszimmer.

Wie ein Chirurgeninstrument nahm er den Stift zwischen Zeigefinger und Daumen, die anderen Finger weggespreizt, und begann in das Loch zu stochern, die Taschenlampe noch immer darüber haltend. Kilian achtete darauf, nicht mit den Fingern unter das Niveau des Randes des Lochs zu kommen. Mühelos schob er das Schreibgerät immer tiefer hinein, ohne irgendwo anzustoßen. Das Licht reflektierte von dem Gegenstand, nicht aber von irgendetwas rundherum.
Rasch zog er den Kugelschreiber wieder heraus und kam dabei mit dessen Spitze am Rand des Loches an. Dieser gab nach, weich, federnd, in Wellen zuckend. Und das Loch wuchs wieder, nur ein Stück, aber sein Durchmesser war auf fast fünf Zentimeter angewachsen.

Kilian spürte, wie Schweiß auf seiner Stirn erkaltete.
Sein Verstand arbeitete und das Ergebnis war nicht erbaulich.
Aber Kilian war kein fantasiebegabter Mensch und seine Imaginantionsfähigkeit erstreckte sich vor allem auf Wachstumsprognosen und zukünftige Wirtschafts- – und Personalkostendaten.
Doch sein Verstand sagte ihm klar, dass er hier im Augenblick nichts ausrichten konnte, was natürlich nicht hieß, dass er kapitulierte.

Aber er war nicht bereit, einem Loch eine dermaßen große Bedeutung angedeihen zu lassen.
Also knipste er die Lampe aus und erhob sich.

Dann ging er zu seinem Schreibtisch zurück, starrte unverwandt auf den Bildschirm, auf dem als Standbild und in Großaufnahme die zentralen Regionen der einen Blondie zu sehen waren. Aber ihm war nun endgültig die Lust vergangen. Er fuhr den PC herunter und knipste die Schreibtischlampe aus. Bevor er das Zimmer verließ, schob er noch den Topf mit dem Gummibaum über das Loch – aus den Augen, aus dem Sinn – und ging ins Obergeschoss zu Bett.

Am nächsten Morgen war er wie immer in Eile und wurde eigentlich erst im Auto, in Ahnung des ersten (von etwa fünf) morgendlichen Kaffees, die ihm Sigrid in gewohnter Routine in Fünfzehnminutenabstand zu servieren hatte, so richtig munter.

Das Loch hatte keine Präsenz in seinem Tagesablauf.

Er unterschrieb, was Sigrid, die vor ihm im Büro war, ihm vorlegte, trank seine Kaffees, erarbeitete eine Quartalsanalyse, feuerte zwei Mitarbeiter, in dem er ihre Kündigungen unterzeichnete, die ein nervöser Gruppenleiter dann auszuhändigen hatte, telefonierte mit dem Head Quarter, nahm sein Mittagessen mit zwei seiner ranggleichen Kollegen ein und war gemäßigt jovialen zum dritten, einem rangniedrigerem, der als kleines Incentiv bei den Grossen dabei sein durfte, nahm an einer Konferenz teil, begutachtete die beiden neu aufgenommenen Sachbearbeiterinnen in der Personalverrechnung, bekam eine Erektion beim Anblick der einen der beiden, einer vollbusigen Kleinen mit einem Pferdehintern, lud sie für später auf einen Begrüssungstrink ein und arbeitete bis nach 18 Uhr an einem Vortrag vor dem General Overhead.
„Vergessen Sie nicht, ihre Gattin anzurufen“, gemahnte ihn Sigrid, als sie sich verabschiedete. Kilian nickte nur, nahm wohlwollend Sigrids Zuverlässigkeit zur Kenntnis und ignorierte den Inhalt der Erinnerung.

Ebenso ignorierte er das Blinken des Anrufbeantworters, nach dem er vier Stunden und drei Runden mit der kleinen vollbusigen Sachbearbeiterin später, nach hause kam.

Er ging geradewegs ins Schlafzimmer rauf, duschte, wusch sich den Sexgeruch vom Körper, war bar jeder Geilheit und vergaß daher ganz, unter der Dusche zu masturbieren und fiel in sein Bett und schlief sofort ein.

Irgendwann ein paar Stunden nach Mitternacht riss ihn ein Geräusch aus dem Schlaf: ein lautes Schleifen gefolgt von ein paar schmatzenden, fetten Lauten.

Kilian war schlagartig wach.
Er überlegte kurz, ob er die Waffe mitnehmen sollte, die in seiner Nachttischlade lag, ließ es aber sein. Solche Geräusche machten keine Einbrecher. Stattdessen nahm er sein Handy, obwohl es obskur war, anzunehmen, dass er bei einem Angriff noch rasch genug die Polizei rufen hätte können.

Das Geräusch war von unten gekommen. Und so ging Kilian, in Shorts und T-Shirt, mit dem Handy in der Hand im Dunklen die Treppe hinunter.
Im Erdgeschoss war es still. Sehr still. Was immer das Geräusch verursacht hatte, es ruhte nun – oder war nicht mehr da.

Kilian ging vorsichtig von Zimmer zu Zimmer, knipste die Lichter an und ließ sie eingeschaltet, als ob er damit vermeiden wollte, zwei Mal das gleiche Zimmer zu untersuchen. Wohnzimmer, Esszimmer, Küche, Abstellraum, Wintergarten, Gästezimmer, Arbeitszimmer,..... Auch hier nichts.
Doch.
Etwas war anders.
Aber hier war niemand in dem Raum.
Hier fehlte etwas!
Der Gummibaum war verschwunden.
Kilian schluckte.
Und dann wusste er, was das Geräusch verursacht hatte.

Das Loch war gewachsen. Es war größer geworden.
Es war groß genug geworden, um einen zwanzig Liter Erde fassenden Blumentopf zu schlucken und die darin wurzelnde zwei Meter hohe Zimmerpflanze gleich hinten nach.

Das Loch hatte mittlerweile einen halben Meter Durchmesser und Kilian stand davor, in sein schwarzes Inneres starrend. Der Rand des Loches wabberte, pulsierte unrhythmisch, weich, verschwommen, diffus, als wäre es nicht genau abgrenzbar gegen seine Umgebung.

Der Bereich unter dem Arbeitszimmer war nicht unterkellert.... Erdreich befand sich unmittelbar unter Estrich, Fundamentplatten, Drainagen.

Wühlmäuse?
Kilian kicherte, schüttelte dann den Kopf. „Schwachsinn.“
Er nahm sich vor, nun selbst was zu unternehmen und es nicht Katja zu überlassen, die damit ganz sicher überfordert sein würde.

Kilian – der Herr der Lage. Kilian – der Mann, der die Gewerkschafter erzittern ließ – Kilian in Shorts und Shirt, bloßfüssig– der in den Lagerkeller rannte und dort ein paar von den restlichen Zaunlatten, die Werkzeugbox und eine Schachtel 6-Zoll - Nägel holte.

Während er am Boden kniend, die Latten am Parkett festnagelte, gratulierte er sich, dass er sich dieses Haus in dieser Lage leisten konnte, wo es in dreihundert Meter Umkreis keine idiotischen Nachbarn gab, die sich über ein lautes Hämmern um drei Uhr Nachts beschweren hätten können.

Als er fertig war, starrte er auf sein Werk, das aus fünf mehr oder weniger sternförmig sich über dem Loch kreuzenden Brettern bestand. Er war wirklich mit sich zufrieden und beschloss nun zu Bett zu gehen. Für ihn war die Sache erledigt und morgen würde er einen Tischler anrufen. Oder übermorgen, da ja nun keinen Eile mehr bestand.
Er ging zu Bett.

Am nächsten Morgen bestand für ihn definitiv kein Grund, die Türe zu seinem Arbeitszimmer zu öffnen, also tat er es auch nicht.

Aber das Loch war da.
Und er dachte daran.

Gegen Mittag fiel ihm ein Katja anzurufen.
Sie hob sofort ab und er brachte die bereitgelegte Ausrede an, warum er sie gestern nicht angerufen hatte. Sie erzählte Belanglosigkeiten von ihrem Urlaubsort, von den Kindern und er fragte sich schon, warum er sich den Anruf angetan hatte.
Dann fragte er sie ganz beiläufig nach dem Benehmen der Kinder in den Tagen vor der Abreise, bekam aber keinen Hinweis, ob sie von dem Loch im Arbeitszimmer Notiz genommen hatte oder gar eine Erklärung hätte liefern können.

Später ertappte er sich, als er über 15 Minuten auf die immer gleiche Seite des Protokolls der letzten Vortandssitzung starrte, während er mit den Füssen wippte.

Als er Abends, nach der Sauna mit seinen beiden besten Freunden, getrennt, nicht gemischt - ab und zu mussten Männer unter sich bleiben - , heimkam, stand er fünf Minuten vor der geschlossenen Türe seines Arbeitsraumes, bis er bereit war, sie zu öffnen.

Er sah das Loch nicht.
Denn das Bücherregal verdeckte es, mit der Rückwand nach oben.
Das Regal war in etwa zwei Meter hoch und über einen Meter breit, und war über das Loch gekippt, als dieses bei seinem Wachstum die Unterkante des Möbels erreicht hatte.

Einen Augenblick lang dachte Kilian an die Zweihundert Bücher, die das Regal beinhaltet hatte, inklusive der Originalschrift seiner Dissertation. Er war wütend, er war schrecklich wütend.
In diesem Moment wuchs das Loch wieder ein Stück und das Regal kippte gänzlich über den wabbernden Rand in das schwarze Nichts darunter.
Kilian erwartete – ganz kausal denkend – ein dumpfes Rumpeln oder krachendes Splittern, mit dem das Regal am Boden des Lochs oder wenigstens irgendwo aufschlug.
Aber es blieb vollkommen still. Das Ausbleiben eines jeglichen Geräusches ließ Kilians Wut verfliegen.

Er dachte nach und analysierte die Situation.
Er stand vor einem Loch unbekannter Herkunft, dass sich in seinem Arbeitszimmer, in seinem Haus, auf seinem Grundstück befand und in das soeben sein Bücherregal gefallen war. Er überlegte, ob es Sinn machte, die Wachstumsprognose des Loches zu berechnen, was er an seinem Heim- PC durchaus hätte tun können. Dazu hätte er aber den Raum betreten müssen, woran ihm im Augenblick nichts lag.

Kilian drehte sich um und nahm sein Handy aus der Aktentasche.

Er wählte die Nummer von Judith, seiner Geliebten – nein, nicht ganz richtig, korrigierte er sich im Geiste. Geliebte pflegte sie sich selbst zu nennen, da sie der hartnäckigen Einbildung nachhing, er, Kilian würde etwas für sie empfinden.
Was ja nicht ganz so falsch war, wenn man die sexuelle Erregung, die er erlebte, jedes Mal, wenn er sie anfasste als emotionale Empfindung bezeichnete.
Aber sollte sie das glauben, denn solange sie das tat, war sie willig, sich von ihm ficken zu lassen, und mehr wollte er nicht von ihr.

Nur jetzt benötigte er doch etwas anders. Judith war Naturwissenschafterin, Biochemikerin zwar, aber zumindest konnte sie in der vorliegenden Kausa unter Umständen mehr Auskunft geben, als er selbst es fähig war. Was er sich natürlich nicht anmerken lassen durfte.
Niemals bat er eine Frau um Hilfe. Aber in Anbetracht des geräuschlosen Verschwindens des Bücherschrankes, hatte er beschlossen, eine Ausnahme zu machen.

Judith hob bereits nach zweimaligem Läuten ab.
Sie war ausgesprochen verwundert, dass er sie um diese Uhrzeit anrief. Ansonst war ein Telefonat am Abend Tabu. Kilian war ja nicht so verrückt, seine Ehe zu gefährden.
„Wo ist Katja?“ fragte Judith sofort?
„Seit letzter Woche auf Urlaub mit den Kindern, aber darum geht es jetzt nicht….“
„ Sie ist weg und Du meldest Dich erst jetzt?“ kam es sofort zurück.
„Judith, das ist jetzt nicht Thema“ herrschte Kilian sie an.
„Früher warst Du sofort bei mir, wenn sie mal nur einen Theaterabend hatte. Und jetzt rufst Du mich erst nach einer Woche an?“ Judith war hörbar wütend.
Kilian fühle sich plötzlich in der Defensive – nein, so durfte das Gespräch nicht verlaufen.
„Judith, ich fick Dich noch heute Abend, aber jetzt will ich was anderes von Dir“
„Was sagst Du?“ Judiths Stimme hatte plötzlich einen eigenartigen Tonfall.
„Ich habe ein Loch in meinem Arbeitszimmer, das wächst und ich will wissen, was das ist!“
Kilian hörte Judith schweigen. Es war kein Gutes verheißendes Schweigen.
Dann holte sie vernehmbar Luft. „Du rufst mich an wegen eines Loches?! Verflucht, was bist Du für ein Dreckskerl. Du weißt, wie gern ich mit Dir zusammen sein will. Aber meine Gefühle sind Dir ja so verdammt egal. Du meldest Dich nur, wenn Du was brauchst und denkst überhaupt nicht an mich!“
Kilian wollte schon dazwischenfahren, dass er eben gerade an sie gedacht hatte, aber Judith fuhr schon fort. „Du hast also ein Loch… Weißt Du was? Dann spring rein und vergiss mich!“
Und dann legte sie auf.

Kilian stand einige Augenblicke lang mit dem Handy am Ohr und hörte dem Besetztzeichen zu. Er konnte nicht fassen, dass Judith ihn so abserviert hatte.
Was bildete sich diese Frau eigentlich ein!!!!
So was würde er sich nicht bieten lassen, und wenn sie anderntags im Staub daher gekrochen käme und um Entschuldigung flehte…

Dann hörte er ein kurzes, schleifendes Geräusch – aus dem Arbeitszimmer.
Er wusste, er musste nachsehen. Er wollte es ganz sicher nicht tun. Aber er würde es tun.

Es war der Schreibtischsessel, der nicht mehr vorhanden war.
Der Schreibtisch selbst hing mit einem Bein über dem schwarzen Abgrund, denn das Loch hatte mittlerweile einen Durchmesser von zwei Metern.

Sein Schreibtisch… ein Designerstück .. darauf sein PC .. der modernste, der derzeit um Geld zu bekommen war.. Nein, das würde sich Kilian nicht gefallen lassen.
Er stürzte in das Zimmer, packte den Tisch und schleifte ihn hinaus in den Flur, in Sicherheit. Sollte das Loch nach anderer Beute Ausschau halten, diesen Tisch und diesen Computer würde es nicht bekommen.
Kilian fühlte sich wie ein Sieger.
Zufrieden schloss er die Türe, positionierte den Schreibtisch an der Flurwand, ging ins Obergeschoss, dusche und begab sich zu Bett.
Vor dem Einschlafen beschloss er nun endgültig am nächsten Tag den Tischler anzurufen, und auch gleich einen Zimmermann. Außerdem musste er einen neuen Schreibtischsessel besorgen, was aber Sigrid übernehmen könnte….

In Erwartung, dass die Angelegenheit spätestens bis zum Abend erledigt sei, verließ er das Haus. Die Tür zum Arbeitszimmer blieb geschlossen.

Sigrid war eine Perle und arrangierte noch für den gleichen Nachmittag das Eintreffen der Handwerker und für tags drauf die Lieferung eines neuen Scheibtischsessels.
Kilian beglückwünschte sich selbst, Sigrid eingestellt zu haben und weiters, dass sie so absolut reizlos war, sodass sie nie in Versuchung geraten würde, einen Liebhaber zu haben, der sie vom Arbeiten für ihn, Kilian abhielt, bzw. ihn, Kilian vom Arbeiten abzuhalten, in dem er bei ihrem Anblick eine Erektion bekommen hätte, so wie bei der kleinen dunklen Sachbearbeiterin.

Kilian ließ mittels Boten einen zweiten Hausschlüssel zu dem bestellten Zimmermann bringen und erwartete, am Abend alles im gewohnten Zustand vorzufinden.

Er fand es im gewohnten Zustand vor. Denn das Loch war nach wie vor vorhanden – von den Professionisten fehlte jedoch jede Spur.

Der wabernde Rand des Loches – sein Durchmesser war auf drei Meter gestiegen - fraß bereits die Sockelleisten an. (Waren es eigentlich tragende Wände, die das Arbeitszimmer gegen die Veranda und das Gästezimmer abgrenzten?) Der japanische Reisteppich, der am Vorabend noch da war, war nicht mehr zu sehen.

Das einzige, was sich noch im Raum befand, war die Asherman-Skulptur.


Die Asherman-Skulptur!

Er hatte eine halbe Weihnachtsgratifikation dafür gezahlt, und sie auch nur erhalten, weil er mit dem Neffen des Künstlers im gleichen Golfclub spielte. Katja hatte getobt, denn sie hätte das Geld lieber im Ausbildungsfond der Kinder gesehen. Nichtmal der Solitär, der für sie abfiel, hatte sie milder stimmen können. Aber noch bestimmte er über das Geld, das er heimbrachte.

Also alles, nur nicht der Asherman!

Kilian fühlte gewaltigen Zorn in sich aufsteigen.
Die Skulptur stand in der, der Türe gegenüberliegenden Ecke des Zimmers, 15 cm vom zuckenden Rand des Loches entfernt.

„Du kriegst sie nicht!“ zischte Kilian.
Er erfasste die Situation mit einem Blick. Der Rand des Loches hatte die Seitenwand erreicht und begann sich in die Mauer zu fressen.
Noch war es aber möglich, mit einem großen Schritt, darüber hinweg zu steigen und in die andere Zimmerecke zu gelangen – ein problemlos machbares Unterfangen.

Es bedurfte wirklich nur eines großen Schrittes – Kilian vermied es, dabei hinunter zu schauen – um über die Schwärze zu steigen und schon befand er sich in der Ecke mit der Skulptur. Er hob sie hoch und bemerkte, wie schwer sie war – kein Wunder, reine Bronze, dachte er bei sich – und daher allein schon deswegen zu schade, um sie dem Loch zu überlassen.
In diesem Augenblick, als Kilian, die Figur haltend, wieder über das Loch steigen wollte, wuchs es neuerlich und fraß sich an Kilians Schuhspitzen heran, jene Stelle wegfressend, auf der gerade zuvor der Asherman gestanden hatte.

Kilian trat einen Schritt zurück und spürte die Wand im Rücken.
Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Ihm gefiel die Situation nicht, da das Loch nun die Distanz von festem Boden zu festem Boden auf mehr als einen Meter verbreitert hatte, größer als seine Schrittlänge also.

Er starrte in die Finsternis unter sich und dachte nach. Der Schweiß auf seiner Stirn fühlte sich klamm an. Er stand auf dem verbliebenen Bodenstück in der Ecke des Zimmers, ein Dreieck mit gerade fünfzig Zentimeter Seitenlänge auf der einen Seite begrenzt (wirklich begrenzt?) durch den zuckenden, fluktuierenden Rand des Loches, der sich auf ihn zuzuarbeiten schien, Millimeter um Millimeter des Parketts in seiner Schwärze verschwinden ließ.

Kilian blieb keine andere Wahl, er musste springen.
Schwer wog der Asherman in seinen Händen, aber er würde ihn nicht hier zurücklassen und dem Loch übergeben. Um keinen Preis der Welt. So einen Niederlage würde er nicht hinnehmen wollen!

Noch zögerte er, dann höre er das Telefon draußen läuten. Der Anrufbeantworter sprang sofort an und nach der kurzen Ansage hörte er Katjas Stimme.
„Die Kinder sind krank, wir kommen morgen schon heim. Sei doch so gut und ruf Svetlana an, damit sie putzt, bevor wir heimkommen. Du hast ja sicher keine Zeit zum Aufräumen gehabt, Schatz!“

„Mach das doch selbst, „Schatz“ „ zischte Kilian, und sprang, da er keinen Schwung holen konnte, aus dem Stand vorwärts, den Asherman festhaltend.

Schwer war die Skulptur, und selbst als er sie dann doch losließ, gelang es ihm nur mehr, den Rand des Loches zu fassen. Diesen weichen, wabernden Rand.

Und er glitt ab daran.
Und er fiel, während vom Anrufbeantworter nur mehr das Besetztzeichen erklang.





Als Katja am nächsten Abend mit den Kindern heimkam, bemerkte sie auch beim zweiten Rundgang durch das Haus nicht, dass das Arbeitszimmer nicht mehr vorhanden war, sondern die Veranda nun direkt ans Gästezimmer anschloss.